Grand Prix für Neuroimmunologie

Prof. Hartmut Wekerle, Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Hochdotierter Wissenschaftspreis des Institut de France geht 2002 an Prof. Hartmut Wekerle für seine Arbeiten zu Verlauf und Therapie von Autoimmunkrankheiten

Prof. Hartmut Wekerle, Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München, erhält den mit 750.000 Euro dotierten Wissenschaftspreis der Fondation “Louis D.” des Institut de France, Paris, für seine Arbeiten zur Aufklärung der grundlegenden Mechanismen von Autoimmunkrankheiten des Nervensystems. Der seit dem Jahr 2000 von der “Louis D.”-Stiftung verliehene “Grand Prix für Wissenschaft” ist die bedeutendste französische Auszeichnung für ausländische Forscher. Die Preisverleihung findet am 17. Oktober 2002 am Institut de France in Paris statt.

Aufgabe des Nervensystems ist es, Reize aufzunehmen, sie zu verarbeiten und die Funktionen einzelner Organe zu koordinieren und sinnvoll zu steuern. Das Immunsystem hingegen wirkt als das Schutz- und Abwehrsystem des Körpers. Beide Organsysteme üben ihre Funktion nicht etwa beziehungslos nebeneinander aus, sondern stimmen sich sorgfältig aufeinander ab: Zwischen Nerven- und Immunsystem bestehen vielfältige und hoch komplexe Wechselbeziehungen. Eine Störung dieses Zusammenspiels führt zu ernsthaften Erkrankungen.

Im gesunden Organismus reagiert das Immunsystem auf fremde Zellen, indem es Antikörper und Cytokine bildet, Proteine, die Oberflächenstrukturen – Antigene – auf den fremden Zellen (z. B. Viren oder Bakterien) erkennen. Zusätzlich verfügt das Immunsystem über verschiedene Arten von Immunzellen, die mit ihren Oberflächenrezeptoren körperfremde Zellen erkennen und zerstören. Eine Gruppe der Immunzellen bilden die T-Lymphozyten, auch T-Zellen genannt. In Ausnahmesituationen – bei so genannten Autoimmunkrankheiten – wenden sich autoaggressive T-Zellen des Immunsystems gegen körpereigene Antigene und zerstören körpereigene Zellen. Multiple Sklerose gilt als eine derartige Autoimmunerkrankung.

Lange Zeit hatte man angenommen, dass in gesunden Organismen keine autoreaktiven T-Zellen vorkommen. Professor Wekerle hat dieses Dogma widerlegt. Seine Forschungen zeigen, dass auch in gesunden Organismen zahlreiche autoaggressive T-Zellen gewissermaßen “im Ruhezustand” vorhanden sind. Diese Zellen ruhen im Lymphgewebe und können sich in der Blutbahn bewegen, ohne Schaden anzurichten. Werden sie aktiviert, etwa bei Entzündungen oder Virusinfektionen, können sie Autoimmunreaktionen auslösen. Hartmut Wekerle konnte außerdem zeigen, dass aktivierte autoaggressive T-Zellen nicht nur den Organismus schädigen, sondern auch die Regeneration von geschädigtem Gewebe unterstützen können, etwa bei zerstörten Muskel- oder Nervengeweben.

Die Wissenschaftler im Labor von Hartmut Wekerle waren auch die ersten, die die verschiedenen Wege der T-Lymphozyten im Organismus genau verfolgen konnten – weil es ihnen gelungen war, ein grün fluoreszierendes Protein durch Genmanipulation in die Abwehrzellen einzuschleusen. Mit den so markierten und weiterhin intakten T-Lymphozyten konnten die Martinsrieder Wissenschaftler auch die Wechselwirkungen zwischen Nervensystem und Immunsystem unter die Lupe nehmen und die komplizierte Beteiligung von T-Zellen an Immunreaktionen gegen das zentrale Nervensystem untersuchen.

Die Funktion der hirnspezifischen T-Lymphozyten zu verstehen ist deswegen so kompliziert, weil das Nervengewebe durch eine spezialisierte Zellschicht vom Blutkreislauf abgeschottet ist – diese Endothelschicht bildet die für die meisten Blutzellen und Blutmoleküle undurchdringliche “Blut-Hirn-Schranke”. Bis vor wenigen Jahren hatte man angenommen, dass keinerlei Zellen oder Stoffe aus dem Blut in das zentrale Nervensystem eindringen können. Deshalb vermutete man auch, eine Immunreaktion müsste im zentralen Nervensystem anders ablaufen als im übrigen Organismus. Professor Wekerle und seinen Mitarbeitern gelang jedoch der Nachweis, dass eine kleine Anzahl frisch aktivierter T-Lymphozyten durchaus diese Barriere überwinden können.

Wekerles Gruppe zeigte außerdem, dass aktivierte Lymphozyten in der Lage sind, Krankheiten wie die Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE) im zentralen Nervensystem auszulösen. Doch normalerweise haben T-Zellen im Hirn keine Überlebenschance, da im Gehirngewebe so genannte MHC-Proteine, die dem Immunsystem zwischen fremd und körpereigen unterscheiden helfen, nicht gebildet werden. Gemeinsam mit Kollegen hat Hartmut Wekerle bei ganz unterschiedlichen pathogenen Veränderungen im Gehirn die Neubildung von MHC-Proteinen für Antigene sowie von Cytokinen beobachtet. Diese fanden sich oft in reichem Maße bei Entzündungsreaktionen, Virusinfektionen, Tumoren und – besonders überraschend – bei neuronalen Degenerationsprozessen, wie Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson oder Amyotropher Lateralsklerose. Wekerle gelang somit der Nachweis, dass in den derart veränderten Arealen des zentralen Nervensystems tatsächlich die Voraussetzungen für die Reaktivität der T-Lymphozyten erfüllt sind.

Die Wissenschaftler konnten zudem zeigen, dass die Immunreaktivität im Nervensystem je nach Bedarf ein- oder ausgeschaltet werden kann. In Experimenten an Gewebekulturen entdeckten sie, dass die Aktivität der Nervenzellen über die Expression oder Unterdrückung immunologisch wichtiger Gene entscheidet: So unterdrücken elektrisch aktive Nervenzellen die Bildung von MHC-Proteinen, hingegen werden bei durch Nervengift gelähmten Neuronen diese für die Immunreaktion wichtigen Antigene wieder gebildet. Signalgeber für das Ein- und Abschalten der Immungene sind offenbar Neurotrophine, Botenstoffe, die die Funktion der Nervenzellen steuern. Sie werden hauptsächlich von aktiven Nervenzellen gebildet. Ihre immunsuppressive Wirkung, also die Unterdrückung von Immunreaktionen, konnte Wekerle bereits im Tierexperiment nachweisen. Inwieweit Neurotrophine zur Therapie von autoimmunen Erkrankungen des Nervensystems eingesetzt werden können, will Wekerle nun mit seinen Kollegen. untersuchen.

Doch Wekerle verfolgt noch eine weitere Möglichkeit der Therapie: Nachdem nun sicher ist, dass Immunzellen die “Blut-Hirn-Schranke” überwinden und auch im zentralen Nervensystem Krankheiten auslösen können, verfolgen die Forscher jetzt die Möglichkeit, T-Zellen als “Vehikel” zu nutzen, um Gene, die degenerative Autoimmunprozesse stoppen können, in das zentrale Nervensystem einzuschleusen..

Grundlage für die bahnbrechenden Forschungsergebnisse aus der von Hartmut Wekerle geleiteten Abteilung Neuroimmunologie über die Immunreaktivität im Nervensystem ist einerseits die neuartige Kombination immunologischer, neuro- und molekularbiologischer Methoden (z. B. bei der Klonierung und gentechnologischen Markierung autoimmuner T-Lymphozyten) sowie andererseits die Anwendung neuer elektrophysiologische Technologien wie das Patch-Clamp-Verfahren. Die Wissenschaftler stellen sich nun der Aufgabe, die neu gewonnenen Erkenntnisse für klinische Anwendungen nutzbar zu machen. Dies gilt nach Wekerle besonders für die Nutzung gentechnologischer Strategien zur Entwicklung von Therapien bei entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Nervensystems. Die Forschungsgruppe um Hartmut Wekerle arbeitet deshalb sehr eng und erfolgreich mit dem von Prof. Reinhard Hohlfeld geleiteten Institut für Klinische Neuroimmunologie an der Universität München zusammen. Gemeinsam erforschen die Wissenschaftler der beiden Forschungseinrichtungen auch erfolgreich die Hintergründe für die Entstehung von Multipler Sklerose (MS).

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Eva-Maria Diehl Max-Planck-Gesellschaft

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