XY ungelöst: Wenn die Frage nach dem Geschlecht nicht eindeutig zu beantworten ist

Prof. Dr. med. Olaf Hiort, Sprecher der klinischen Forschergruppe "Intersexualität" an der Uni Lübeck

DFG fördert klinische Forschergruppe an der Medizinischen Universität Lübeck zum Thema Intersexualität

Die Verwirrung frischgebackener Eltern ist groß, wenn sie im Kreißsaal keine eindeutige Antwort auf die Frage „Junge oder Mädchen?“ bekommen. Das Phänomen – Intersexualität genannt – ist keine Seltenheit: Bei einer von 2000 Geburten lässt sich das Geschlecht des Neugeborenen nicht exakt bestimmen. Oft werden die Kinder sehr früh operiert, um aus ihnen ein „richtiges“ Mädchen oder einen „richtigen“ Jungen zu machen. Dies kann für den weiteren Lebensweg psychisch und körperlich sehr belastend sein.

Wissenschaftler der Medizinischen Universität zu Lübeck (MUL) befassen sich – als einzige Hochschulforscher in Deutschland überhaupt – seit zehn Jahren intensiv mit Ursachen und Folgen der Intersexualität; sie sind inzwischen Anlaufpunkt für Patienten und Ärzte aus der ganzen Welt geworden. Jetzt hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) die Anstrengungen der MUL mit Einrichtung einer klinischen Forschergruppe honoriert: In dem zunächst auf drei Jahre angelegten Projekt „Intersexualität – Vom Gen zur Geschlechtsidentität“ stehen den Wissenschaftlern um Prof. Dr. Olaf Hiort, Priv.-Doz. Dr. Ute Thyen und Dr. Paul-Martin Holterhus von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin sowie deren Kooperationspartnerin Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt vom Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) rund 1,5 Millionen Euro zur Verfügung, die anteilig von der DFG und der Universität finanziert werden.
Als Intersexualität bezeichnet man eine Abweichung von der normalen Entwicklung zu Mann oder Frau. Eine solche Abweichung kann vielfältige Ursachen haben, wird doch das Geschlecht nicht nur durch genetische Faktoren, sondern in besonderem Maße auch durch hormonelle Wirkungen geprägt. So können sich Babys, die genetisch männlich veranlagt sind, rein äußerlich zu einem Mädchen entwickeln; auch der umgekehrte Weg ist möglich. Nicht immer stellen Ärzte oder Angehörige schon bei der Geburt fest, dass mit dem Nachwuchs „etwas nicht stimmt“: Oft werden Störungen der Geschlechtsentwicklung im Kleinkindalter, in der Pubertät oder – von den Betroffenen selbst – erst dann festgestellt, wenn sie erfahren, dass sie sich nicht fortpflanzen können.

„Intersexualität hat nichts mit Homo- oder Transsexualität zu tun“, erläutert Prof. Hiort. „Transsexuelle sind biologisch eindeutig Mann oder Frau, bei ihnen ist jedoch die Geschlechtsidentität gestört. Intersexuelle dagegen haben eine echte biologische Auffälligkeit. Ansonsten sind sie Menschen wie du und ich. Sie fallen nicht als schrille Vögel auf, sondern versuchen, ein normales Leben zu führen. Jedem von uns ist schon ein Mensch mit Intersexualität auf der Straße begegnet, ohne dass wir es bemerkt hätten.“ Befragungen unter Betroffenen haben ergeben, dass die Mehrheit von ihnen tatsächlich einen „normalen“ Platz in der Gesellschaft einnimmt – sie fühlen sich hinsichtlich Lebensqualität und Lebenszufriedenheit nicht wesentlich beeinträchtigt. Bestimmte Bereiche wie Partnerschaft, Kinderwunsch und sexuelles Erleben sind oft jedoch sehr problembeladen.

Worauf lässt sich Intersexualität nun zurückführen? Anfangs sind alle Embryonen Zwitter. Bei der Befruchtung wird zwar das Kerngeschlecht festgelegt – zwei X-Chromosomen stehen für weiblich, ein X- und ein Y-Chromosomen für männlich. Doch in den ersten sechs Wochen tragen alle Feten die Anlagen für beide Geschlechter in sich. Erst danach reifen entweder Eierstöcke oder Hoden, die wiederum geschlechtsspezifische Hormone bilden und so die Entwicklung zum Mädchen oder Jungen steuern.
Inzwischen ist eine Vielzahl von Störungen bekannt, die diesen „normalen“ Ablauf beeinträchtigen. An der MUL beschäftigt man sich besonders mit einer häufig vorkommenden Variante, der so genannten Androgenresistenz (AIS, international für Androgen Insensitivity Syndrome). „In diesen Fällen handelt es sich genetisch um ein männliches Individuum, das im Mutterleib auch embryonale Hoden bildet, die männliche Geschlechtshormone ausschütten“, erklärt Prof. Hiort. Die Hormone jedoch werden von den Körperzellen blockiert. Das Schlüssel-Schloss-Prinzip, mit dem die Zellkommunikation normalerweise gesteuert wird, funktioniert nicht. Folglich bleiben die männlichen Hormone wirkungslos. Es entwickeln sich äußerlich weibliche Kinder, bei denen im Bauchraum aber keine Eierstöcke, sondern haselnusskleine Hoden angelegt sind.

In einem Teilprojekt der neuen Forschergruppe werden die biologischen Grundlagen der normalen und der abweichenden Geschlechtsentwicklung untersucht. In Kooperation mit der Stanford-Universität (Kalifornien/USA) hat Dr. Holterhus molekularbiologische Verfahren entwickelt, mit denen die hormonelle Wirkung auf einzelne Gene analysiert werden kann. Insgesamt, so Prof. Hiort, ist man in Lübeck auf dem besten Weg, grundlegende Erkenntnisse zur genetischen und hormonellen Struktur von Mann und Frau zu gewinnen. Diese können helfen, die tiefgreifenden Unterschiede der Geschlechter hinsichtlich körperlicher, seelischer und sozialer Entwicklung zu erklären.

Die Ergebnisse der Grundlagenforschung sind für die Patienten von großer Bedeutung, erklärt Dr. Ute Thyen. „Für Jugendliche und Erwachsene ist es wichtig, die Ursachen für ihre Andersartigkeit zu kennen und die medizinischen Abläufe zu verstehen.“ Denn oft sind erwachsene Menschen mit Intersexualität aufgrund ihrer Vergangenheit sehr verunsichert, was die eigene Identität angeht. Thyen: „Bis vor wenigen Jahren war es üblich, den Kindern so wenig wie möglich über sich zu erzählen. Eine korrigierende Operation, bei der das Geschlecht durch Chirurgenhände festgelegt wurde, wurde so früh wie möglich durchgeführt, damit die Kinder sich später nicht mehr an den Eingriff erinnerten.“

Dass die Betroffenen aber gerade durch das Nicht-Erzählen ständig mit dem Gefühl leben müssen, ihnen werde etwas verheimlicht, und dass sie durch die Operation in eine Geschlechtsrolle gedrängt werden, die ihnen später zum Teil zur Last wird, wurde und wird oft ignoriert. Da verweiblichende Operationen kosmetisch und funktionell bessere Ergebnisse zeigen als vermännlichende, werden sie bei intersexuellen Säuglingen und Kleinkindern häufiger durchgeführt. „Ob das aufgrund der hormonellen Situation jedoch immer die richtige Entscheidung ist, lässt sich bezweifeln“, erklärt Dr. Thyen. Denn bei vielen „Mädchen“ wird später der Wunsch laut, künftig als Junge zu leben und sich erneut operieren zu lassen. Eine Gruppe engagierter Intersexueller hat vor diesem Hintergrund eine Resolution im Bundestag eingebracht, Operationen so lange zu verbieten, bis klar ist, ob sich der Betreffende in Richtung Mädchen oder Junge entwickelt.
Welche Therapie letztendlich die richtige ist, kann niemand sagen; entsprechende Richtlinien gibt es nicht. Jeder Fall ist individuell und sehr persönlich, und in jedem Fall muss nach einer maßgeschneiderten Lösung gesucht werden. Neben den verschiedenen Operationsmöglichkeiten an äußeren und inneren Geschlechtsorganen ist auch eine ausschließlich hormonelle Behandlung denkbar. Thyen: „Und oft reicht es aus, die Patienten über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Vielen hilft es schon, wenn wir ihnen sagen können, dass sie nicht allein sind mit ihrem Problem, dass es andere Betroffene gibt.“ Denn inzwischen haben sich erste Selbsthilfe- und Kontaktgruppen gebildet, in denen Gespräche geführt und Erfahrungen ausgetauscht werden können.

DFG-Forschergruppe in Lübeck und Hamburg aktiv

Dass das Thema Intersexualität zu einem Forschungsschwerpunkt der MUL zählt, macht ein Blick auf die Statistik deutlich: Mehr als 1200 Betroffene oder deren Angehörige („von Australien bis Seattle“, so Prof. Hiort) sind in Lübeck bereits untersucht, behandelt oder beraten worden. Neben der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin sind auch die Klinik für Frauenheilkunde (Direktor: Prof. Dr. Klaus Diedrich), die Klinik für Kinderchirurgie (Direktor: Prof. Dr. Heinrich Halsband) und die Klinik für Urologie (Direktor: Prof. Dr. Dieter Jocham) in der neuen, DFG-geförderten Forschergruppe eingebunden.
Aus dem Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) beteiligt sich Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt von der Abteilung für Sexualforschung der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an dem Forschungsprojekt. In Hamburg werden vor allem erwachsene Intersexuelle nach bisherigen Erfahrungen und heutiger Lebensqualität befragt. Um spezifische Probleme der Entwicklung der Geschlechtsidentität besser zu verstehen, soll hier auch eine Gruppe von Patienten mit Transsexualität untersucht werden.

Uwe Groenewold

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Rüdiger Labahn idw

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