Wenn Jugendliche in der Gruppe kriminell werden
Sie erforschen, wie viele und welche Jugendlichen sich Gangs anschließen und welche Struktur diese problematischen Gruppen aufweisen.
Tübinger Kriminologen befragen deutsche Schüler zur Cliquen- und Gangzugehörigkeit
Viele Jugendliche fühlen sich einer Clique zugehörig. Nur ein geringer Teil solcher Cliquen sind regelrechte Jugendbanden, deren Mitglieder in der Gruppe auch Straftaten begehen. Kriminologen sprechen von Gangs – obwohl in den USA, wo der Begriff herkommt, solche problematischen Jugendgruppen meist viel stärker organisiert sind und eine stärkere hierarchische Struktur haben als in Europa. „Lange wurde in Deutschland das Phänomen problematischer Gruppen von Jugendlichen nicht thematisiert oder gar zum Forschungsgegenstand gemacht“, sagt die Psychologin Dr. Kerstin Reich vom Institut für Kriminologie der Universität Tübingen. Sie will daher zunächst zusammen mit dem Soziologen Klaus Bott eine Art Bestandsaufnahme der Jugendgangs in Deutschland machen und hat sich mit ihrer Arbeitsgruppe, die auch vom Institutsdirektor Prof. Hans-Jürgen Kerner sowie Prof. Elmar G. M. Weitekamp unterstützt wird, an das internationale Forschungsprojekt „Eurogang Program of Research“ angeschlossen.
In einem ersten Schritt haben die Tübinger Wissenschaftler 520 Jugendliche im Alter zwischen 13 und 16 Jahren zu ihrem Freizeitverhalten, der Zugehörigkeit zu Cliquen und ihren Beziehungen zu den Eltern befragt. Ergebnis der nicht repräsentativen Studie: rund acht Prozent der Jugendlichen gehören zu Gruppen, deren Mitglieder eine befürwortende Einstellung gegenüber illegalen Handlungen aufweisen und untereinander oder gegen Dritte schon mal Gewalt ausgeübt, Sachen beschädigt oder Diebstähle begangen haben.
In dem europäischen Forschungsprojekt über Jugendgangs wollen die Forscher zunächst die Grundlagen schaffen, aufgrund derer Vergleiche zwischen einzelnen Ländern möglich werden. „Über die Struktur, den Organisationsgrad oder die Größe von Jugendgangs gibt es bis jetzt wenig Erhebungen“, sagt Kerstin Reich. „Klar ist, dass nur ein geringer Teil der Jugendgruppen problematisch wird. Illegale, kriminelle oder gewalttätige Handlungen stellen bei den Gangs einen Teil der Gruppenidentität dar.“ Angelehnt an einen Fragebogen, der von der internationalen Forschergruppe unter der Federführung des amerikanischen Gangforschers Malcolm Klein für Erhebungen unter Schülern entwickelt wurde, haben die Tübinger Wissenschaftler eigene Daten gesammelt. Geplant ist, nicht nur diesen Schülerfragebogen einzusetzen, sondern auch Experten wie Personen von der Polizei, aus der Jugendhilfe, Vertrauenslehrer oder Sozialarbeiter zu Ausbreitung und Struktur dieses Phänomens zu befragen. In die Untersuchung einbezogen werden sollen auch Schlüsselpersonen auf der kommunalen Ebene, die näher am Geschehen dran sind und einen Überblick über die örtlichen Gangs und deren Aktivitäten haben. Zunächst wurden 520 Schüler der Klassen sieben bis neun an Hauptschulen unter dem Titel „Erhebung zum Freizeitverhalten und Freundeskreis“ anonym befragt. Die meist 13- bis 16-jährigen Schüler sollten Angaben machen über die Intensität der Beziehungen zu den Eltern, einen eventuellen Migrationshintergrund und ihre schulische Laufbahn. „Die Zugehörigkeit zu einer Gang wurde indirekt abgefragt als Zugehörigkeit zu informellen Gruppen, womit also nicht die Pfadfinder oder der Musikverein gemeint sind“, erklärt die Psychologin. Über Fragen zur Zusammensetzung der Gruppen, ihren ethnischen Hintergrund, die Treffpunkte, eigene Regeln und Führer sowie die gemeinsamen Aktivitäten versuchen die Forscher, sich ein Bild von der Gruppe zu machen. „Wir haben gefragt, ob es Delinquenz gegen Personen gibt wie schlagen, kämpfen oder bedrohen, gegen Dinge wie Graffiti sprühen, Gebäude aufbrechen oder Gegenstände zerstören. Die Erfahrung zeigt, dass Jugendliche bei anonymen Befragungen mit ihren Antworten relativ ehrlich sind“, sagt Kerstin Reich.
Abgefragt wird auch die Gruppenidentität, ob es in der Gruppe akzeptiert wird, illegale Handlungen zu unternehmen, ob es vorkommt, dass mehrere Personen aus der Gruppe gegen das Gesetz verstoßen. „Wenn vorhanden, sollte der Name der Gruppe oder Clique genannt werden. Dadurch wussten wir, dass wir in manchen Fällen auch drei Leute aus einer Gruppe befragt hatten, und konnten Vergleiche ziehen“, sagt die Forscherin. Allgemein zeigten Studien zur Gangforschung in den USA und auch Europa, dass sechs bis acht Prozent der Jugendlichen Mitglieder delinquenter Gruppen seien. Bei acht Prozent lag auch der Wert der nicht repräsentativen Tübinger Erhebung: auf 42 der 520 befragten Jugendlichen trifft die kriterienorientierte Definition als Gangmitglied zu. Sie sind in einer dauerhaften Gruppe, die sich zur Straße orientiert, also an Bushaltestellen, in Kaufhäusern, an öffentlichen Plätzen oder auf Kinderspielplätzen versammelt. Die Gruppe ist in illegale Aktivitäten involviert, und das gehört auch zur Gruppenidentität. „Das häufigste Delikt ist Gewalt gegen Personen. 50 Prozent der Gangmitglieder geben an, schon mit anderen Gangmitgliedern gekämpft zu haben, 38 Prozent, dass sie beim Zusammenschlagen anderer Menschen beteiligt gewesen seien“, sagt Klaus Bott. Öfter als bei gleichaltrigen Jugendlichen ist bei Gangmitgliedern Alkohol im Spiel: Nach eigener Auskunft trinken Gangmitglieder zu 64 Prozent oft oder häufig Alkohol, andere Jugendliche nur zu 40 Prozent. Wenn Jugendliche Gangmitglieder werden, tun sie das zum eigenen Schutz – sie fühlen sich bedroht oder sind es auch tatsächlich. Sie wollen ein eigenes Gebiet haben, dadurch ist das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe stärker ausgeprägt und sie wollen sich wichtig fühlen. „Das sind drei Gründe, die in dieser Ausprägung so nicht in normalen Gruppen oder Cliquen vorkommen. Dort ist es eher wichtig, Freunde zu finden oder Gelegenheit zu haben, das jeweils andere Geschlecht zu treffen und Geheimnisse zu teilen“, sagt Kerstin Reich.
Seit Ende der 1980er-Jahre ist die Gewalt-Jugendkriminalität angestiegen. „In der polizeilichen Statistik geht die Zahl der Tatverdächtigen hoch, nicht in diesem Ausmaß aber die Zahl der Delikte. Das heißt, an einem Delikt sind im Schnitt mehrere Jugendliche beteiligt“, berichtet Kerstin Reich. Aus der Polizeistatistik lasse sich jedoch nicht ablesen, ob es sich um Mittäter handelt oder ob es Bandenstrukturen sind, die dahinter stecken. „In der Zeit, in der die Jugendlichen in Gangs organisiert sind, haben sie eine höhere Delinquenzrate als andere Gleichaltrige. Aber man weiß wenig darüber, was später aus ihnen wird.“ Doch was sind es für Jugendliche, die sich delinquenten Gruppen überhaupt anschließen? „Mehr als 70 Prozent sind Jungen. Aus unserer Befragung wissen wir, dass es bei Gangmitgliedern generell weniger elterliche Kontrolle gibt als bei anderen Jugendlichen. Die Eltern wissen oft nicht, wo ihre Sprösslinge sind und mit wem sie unterwegs sind“, sagt Klaus Bott. Sowohl Angehörige von Gangs als auch andere Jugendliche finden gute Noten nach eigenem Bekunden wichtig. Doch die Gangmitglieder hatten deutlich häufiger angegeben, dass Hausaufgaben Zeitverschwendung und die Freunde viel wichtiger seien. „Der Anspruch, gute Leistungen zu bringen, ist auch bei Gangmitgliedern zu finden, aber konkret ist die Schule dann doch nicht so wichtig“, fasst Klaus Bott zusammen. Jugendliche mit einem Migrationshintergrund hätten prinzipiell ein höheres Risiko, in delinquenten Gruppen zu landen. „Aus unserer Befragung lässt sich jedoch nicht klar sagen, ob die Gangmitglieder durch einen solchen Hintergrund oder durch schlechte sozioökonomische Verhältnisse tatsächlich schlechtere Perspektiven im Leben haben als andere Jugendliche.“
Die Tübinger Forscher wollen den Schülerfragebogen im nächsten Schritt in weiteren Schulen einsetzen und mehrere tausend Schüler einbeziehen, um repräsentative Befragungsergebnisse zu erhalten. Dazu wollen sie Schüler der gleichen Altersgruppe an verschiedenen Schultypen und in Städten verschiedener Größe befragen. Außerdem sollen Gangmitglieder in Einzelinterviews befragt werden – auch um herauszufinden, ob sich delinquente Personen Gangs anschließen oder ob die Personen durch die Gang delinquent werden.
Nähere Informationen:
Dr. Kerstin Reich, Tel. 0 70 71/2 97 20 18, E-Mail kerstin.reich@uni-tuebingen.de
Klaus Bott, Tel. 0 70 71/2 97 20 17, E-Mail klaus.bott@uni-tuebingen.de
Institut für Kriminologie
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Fax 0 70 71/29 51 04
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