Menschen lassen sich nicht schmelzen: RUB-Historiker analysiert Mythos "Schmelztiegel Ruhrgebiet"
In der immer wieder entfachten Diskussion um die Rolle von Migranten und die Gefahr von Parallelgesellschaften erscheint der Begriff des „Schmelztiegels“ als Idealbild: Die vollständige Integration und Assimilation aller Zuwanderer.
Das Ruhrgebiet ist eine Gegend mit hohem Migrantenanteil – Bergbau und Stahlindustrie lockten über Jahrzehnte hinweg immer neue Wellen von Zuwanderern. Der Zusatz „Schmelztiegel“ wird ihm daher oft und gerne angehängt.
In der neuen Ausgabe des Mitteilungsblatts des Instituts für soziale Bewegungen beschreibt Prof. Dr. Klaus Tenfelde (Direktor des Instituts) die Geschichte der Migration im Ruhrgebiet und analysiert exemplarisch die Situation der polnischen und türkischen Zuwanderer. Seine Ergebnisse zeigen ein sehr vielschichtiges Bild, das den „Schmelztiegel“ als zu ideologisch entlarvt.
Verschiedene Faktoren beeinflussen Integration
Eigenschaften wie die Größe einer Gruppe, ihre Religion und das vorhandene Bildungsniveau beeinflussen die Integration von Zuwanderern. Aber auch die politischen Verhältnisse wirken darauf ein. Im Falle des Ruhrgebiets macht sich dies zum Beispiel beim gewerkschaftlichen Engagement bemerkbar: Polnische Migranten kamen vor allem gegen Ende des 19.Jahrhunderts in das Ruhrgebiet, einer Zeit, in der deutsche Unternehmer und Politiker die Gewerkschaften bekämpften. Aktive Gewerkschaftsarbeit hätte die Integration der Zugezogenen daher nur zusätzlich erschwert. Türkische Migranten, die erst ab den 1960er Jahren nach Deutschland einwanderten, kannten dagegen aus ihrer Heimat wenig politische Freiheiten. Für sie war die hierzulande inzwischen anerkannte Gewerkschaftsarbeit eine Gelegenheit sich endlich politisch zu engagieren.
Beschreiben statt ideologisieren
Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Voraussetzungen zur Integration im Laufe der Zeit gewandelt haben. Für Prof. Tenfelde einer der Gründe, weshalb ideologieverdächtige Thesen, wie die des Ruhrgebiets als „Schmelztiegel“ der Kulturen, vorsichtig gebraucht werden sollten. Sinnvoller erscheint ihm, Charakteristika und Verhalten sowohl der Aufnahmebevölkerung als auch der Zuwanderer zu typisieren, zentrale Merkmalskomplexe zu erarbeiten und diese in den historischen Kontext einzuordnen. Eine solche Herangehensweise geht flexibler mit dem vielfältigen Phänomen der Migration um und wird ihm dadurch eher gerecht.
Von der Sonntagsarbeit bis zur Friedensbewegung
Der Standpunkt der Katholischen Kirche zur Sonntagsarbeit ist Thema eines der weiteren Forschungsberichte des Mitteilungsblattes. Ebenso die Kriegswahrzeichen des ersten Weltkriegs, die Sozialisationsforschung und religiöse Sozialisation im 20. Jahrhundert, sowie die Leiter von Schottischen Kohlebergwerken zwischen 1930 und 1966. Die Forscher des Instituts für soziale Bewegungen berichten über aktuelle Projekte und ihre Aktivitäten der Jahre 2004/2005 und diskutieren in Buchkritiken verschiedene Werke zur Wirtschaft und Politik in Europa. Im Forum des Mitteilungsblatts präsentieren sie außerdem Tagungsberichte zu den Themen: Entwicklung europäischer Parteien, das politische Zeremoniell im deutschen Kaiserreich, die Geschichte der Arbeiterbewegung und einen Vergleich verschiedener Friedensbewegungen nach 1945.
Titelaufnahme
Tenfelde, Klaus (Hg.): Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen – Forschungen und Forschungsberichte Nr. 36/2006. 2006, Klartext Verlag, Essen, ISBN 3-89-861-747-5, ISBN 0173-2471, ISBN-13 978-3-89861-747-6
Weitere Informationen
Dr. Jürgen Mittag, Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum, Clemensstraße 17-19, 44789 Bochum, Tel.0234/32-26920, E-Mail: juergen.mittag@rub.de
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