Wenn niemand regiert. Ein Forscherteam untersucht den Einfluss externer Akteure auf den afghanischen Staat

Oder führt das internationale Engagement in Afghanistan sogar dazu, dass internationale Organisationen, Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und Friedenstruppen dauerhaft Staatsfunktionen übernehmen? Und: Welche Folgen hätte eine solche Staatlichkeit ohne Staat für die Weltpolitik?

Diese Fragen untersucht ein Forscherteam im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens?“ unter der Leitung von Professor Christoph Zürcher vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und Dr. Ulrich Schneckener von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Was die Forscher dabei besonders motiviert: Ihre Arbeit stößt auf großes Interesse in der Öffentlichkeit, aber auch in der Politik. „Wir kooperieren mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), weil wir an den selben Fragen interessiert sind“, sagt Christoph Zürcher. „Diese Kooperation ist für beide Seiten fruchtbar. Dank der Unterstützung des BMZ können wir trotz schwierigen Bedingungen unsere Feldforschung durchführen und erhalten Zugang zu wichtigen Daten. Auf der anderen Seite ist das BMZ an unseren Ergebnissen interessiert.“ Deutschland, als viertgrößtes Geberland, unterstützt den Wiederaufbau Afghanistans maßgeblich, und die Bundeswehr stellt das drittgrößte Truppen-Kontingent im Land.

Welche Formen der Unterstützung tragen denn überhaupt wirksam zum Wiederaufbau von Staatlichkeit bei? Um diese Fragen zu klären, wird das Forscherteam in diesem Frühjahr 2000 afghanische Haushalte befragen. „Wir konzentrieren uns dabei auf Haushalte im ländlichen Raum, weil wir denken, dass unterstützende Maßnahmen vor allem auch der ländlichen Bevölkerung zu Gute kommen sollten. Diese stellt über 80 Prozent der Bevölkerung, und wenn es nicht gelingt, diese große Gruppe am 'Projekt afghanischer Staat' zu interessieren, dann werden die Bemühungen der Geberländer scheitern.“

Diese Umfragen werden die Forscher nach einigen Jahren wiederholen, um Veränderungen zu dokumentieren. Positive oder auch negative Veränderungen können durch Entwicklungszusammenarbeit herbeigeführt werden. Aber natürlich können auch andere Faktoren die Situation vor Ort beeinflussen, etwa Arbeitsmigration und Drogenhandel, Umweltkatastrophen, oder die destabilisierende Aktivität von Warlords oder Taliban-Kämpfern. Die methodische Herausforderung, vor welcher das Forscherteam steht, liegt darin, den Einfluss des internationalen Engagements auf diese Veränderungen festzustellen. Dazu muss der Einfluss anderer Faktoren gewissermaßen „herausgerechnet“ werden.

Das Forscherteam setzt aber nicht nur auf quantitative, statistische Methoden, sondern setzt ergänzend auch qualitative Methoden ein. „Ohne solide empirische Feldforschung, welche die quantitative Forschung unterstützt, lassen sich diese Fragen gar nicht beantworten“, sagt Jan Koehler, der für das Forscherteam die Feldarbeit in Afghanistan koordiniert, und auf langjährige Erfahrung in Afghanistan zurückblicken kann. Gute Kontakte vor Ort helfen dabei und sorgen nebenbei für Beschäftigung und Fortbildung des afghanischen Forschernachwuchses: Die vorgesehenen Befragungen werden überwiegend von Afghanen durchgeführt, die dafür von dem Forscherteam ausgebildet und angeleitet werden.

Den Einfluss externer Akteure auf die Stabilität und Sicherheit eines Landes untersucht das Forscherteam nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Tadschikistan und Pakistan. Federführend für die Untersuchungen zu Pakistan ist der Pakistan-Experte Boris Wilke von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Den Forschern geht es aber nicht nur darum, zu diesen drei Ländern Fallstudien anzufertigen: „Letztlich verfolgen wir drei übergeordnete Ziele“, sagt Christoph Zürcher. „Wir wollen erforschen, durch welche Maßnahmen internationale Akteure zur Stärkung von schwachen Staaten generell beitragen können. Zweitens beobachten wir, dass die dabei entstehenden politische Gebilde mit dem klassischen souveränen Nationalstaat nicht mehr viel gemein haben, da wichtige Staatsaufgaben dauerhaft von zumeist informellen Partnerschaften zwischen Internationalen Organisationen, NGO und Akteuren vor Ort wahrgenommen werden. Wir wollen untersuchen, welche Auswirkungen diese Tendenz auf internationale Politik hat. Und drittens brauchen wir ein innovatives Methodenbündel, um diese komplexen Probleme überhaupt erforschen zu können.“

Den Forschern wird die Arbeit nicht ausgehen, denn funktionierende Staaten sind seltener, als gemeinhin angenommen wird. Je nach Kriterienraster müssen bis zu einem Drittel aller Staaten als gefährdet gelten. Fragile Staaten aber sind, sagt Ulrich Schneckener von der SWP, ein zentrales Problem der Weltpolitik: „Solche Staaten können kein legitimes Gewaltmonopol aufrechterhalten und ihre Bürger nicht mehr vor inneren und äußeren Bedrohungen schützen, sie können politische Ziele nicht mehr durchsetzen und sie sind nicht mehr in der Lage, den Menschen ein gewisses Maß an materieller Grundversorgung ? Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung ? zu garantieren.“

Besonders problematisch ist es, dass solche Staaten auch nicht mehr in der Lage sind, Institutionen zur gewaltfreien Bearbeitung von Konflikten innerhalb der Gesellschaft oder zwischen Gesellschaft und Staat zur Verfügung zu stellen. Die Folge: Solche Staaten werden anfällig für Bürgerkriege.

Im vergangenen Herbst hat das Forscherteam Reisen nach Pakistan und Afghanistan unternommen, um die Feldforschungsaufenthalte vorzubereiten, welche im Frühjahr 2007 beginnen sollen. Natürlich beobachten die Wissenschaftler sehr genau, wie sich die Sicherheitslage in Afghanistan und Pakistan entwickelt. „Es gibt Probleme. Doch die sind vor allem logistischer Natur. Dank guter Kontakte zu den vor Ort tätigen Organisationen lassen sich diese aber bewältigen“, sagt Boris Wilke, der die Feldforschung in Pakistan organisiert. Und auch die Situation in Afghanistan sehen die Forscher gelassen. „Das BMZ unterstützt uns logistisch, und wir übernehmen selbstverständlich die Sicherheitsbestimmungen der vor Ort tätigen deutschen Organisationen“, sagt Christoph Zürcher. Zudem sei die Lage insbesondere im Norden des Landes nach wie vor stabil. Deshalb sind auch andere deutsche Universitäten und Forschungseinrichtungen weiterhin vor Ort tätig. Nicht zuletzt dadurch wird das andauernde internationale Interesse an Afghanistan dokumentiert, was gerade für die Afghanen wichtig ist, die sich für Demokratisierung und Stabilisierung in ihrem Heimatland einsetzen.

Von Cornelius Graubner

Am 23./24. Februar 2007 findet die Eröffnungskonferenz des SFB 700 in Berlin statt.

Die Veranstaltungen des zweiten Konferenztages sind öffentlich:
http://www.fu-berlin.de/presse/fup/2007/fup_07_038

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