"Viele Druckgeschwüre bleiben unbehandelt"
Immer noch bestehende große Defizite in der Dekubitusprävention und -versorgung
Auch drei Jahre nach dem Hamburger Dekubitus-Skandal bestehen in der Prävention und Versorgung von Druck-Geschwüren noch große Defizite. Das meldet die gerade erschienene Ausgabe von PRO ALTER, das Fach-Magazin des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA). Das KDA bezieht sich dabei auf die Ergebnisse einer neuen Studie aus Hannover. Im Zeitraum von Februar 1999 bis Ende letzten Jahres hat der Rechtsmediziner Joachim Eidam bei 14,4 Prozent von über 12.000 untersuchten verstorbenen Menschen Druckgeschwüre (Dekubitalulcera) der unterschiedlichsten Ausprägungsgrade festgestellt. Im Vergleich dazu war in der Hamburger Studie, bei der rund 10.000 Verstorbene vor ihrer Einäscherung untersucht worden waren, „nur“ eine Rate von 11,1 Prozent an Dekubitalgeschwüren ermittelt worden.
Ob die Verstorbenen zuletzt zu Hause oder im Pflegeheim versorgt worden sind, erfährt der Rechtsmediziner bei seinen „äußeren Leichenbesichtigungen“ im Krematorium meist nicht. Er weiß aber, dass es sich bei ihnen um hilfe- und pflegebedürftige Menschen gehandelt haben muss, denn nur bei bewegungseingeschränkten oder -unfähigen Personen entwickeln sich Druckgeschwüre.
„Als ob jemand bei lebendigem Leib verfault“
Oft war der letzte Aufenthaltsort eines Verstorbenen aber das Krankenhaus. Und hier liegt das für Joachim Eidam zur Zeit größte Problem in der Dekubitus-Entstehung. Viele alte Menschen müssten aufgrund einer Akut-Erkrankung von zu Hause oder aus dem Pflegeheim ins Krankenhaus gebracht werden. Aus zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen oder dem Altenpflegepersonal wisse er, dass die Erkrankten noch mit „heiler Haut“ ins Hospital gegangen seien, wo sie dann aufgrund mangelhafter oder fehlender Prophylaxe aber erst einen Dekubitus entwickelt hätten. Doch gerade dort sollten solche Druckgeschwüre konsequent zu verhindern sein.
Zwar hat Eidam auch festgestellt, dass in den letzten zwei Jahren seiner Untersuchung die „richtig schlimmen Fälle“ seltener geworden sind, doch nach wie vor sehe er an Verstorbenen immer wieder derartig große, infizierte Wunden, die noch zu Lebzeiten des Betroffenen „gestunken haben müssen, als ob jemand bei lebendigem Leib verfault.“ Der Hannoveraner Rechtsmediziner führt das aber nicht nur auf fahrlässiges „Übersehen“, sondern auch auf die „oft erschreckend große Unkenntnis im Hinblick auf die Entstehung eines Dekubitus, seine Vermeidung und Behandlung“ zurück. Viele Ärzte und Pflegekräfte wissen nicht, dass ein Dekubitus in der Regel nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen entsteht. Diese Erkenntnis hat aber enorme Konsequenzen. „Es bedeutet, dass man – noch längst bevor erste Anzeichen wie zum Beispiel eine nicht wegdrückbare Hautrötung erkennbar sind – vorbeugend handeln muss“, erklärt Joachim Eidam in PRO ALTER. Seiner Erfahrung nach glaubten aber viele Pflegekräfte und Ärzte, dass keine Gefahr bestehe, solange sie außen an der Haut nichts sähen. Das sei aber ein Trugschluss mit schwerwiegenden Folgen.
„Dabei bietet die Pflegepraxis verschiedene Risiko-Skalen zur standardisierten Einschätzung einer Dekubitus-Gefahr an“, erklärt die KDA-Pflegeexpertin Christine Sowinski in PRO ALTER. „Nur werden sie oft genug gar nicht erst angewendet oder man zieht nicht die geeigneten Konsequenzen daraus.“ Ist erst ein Druckgeschwür entstanden, kommt es auf die richtige Therapie an. Doch auch hier liegt nach Angaben von Sowinski und Eidam noch Vieles im Argen. „In der Dekubitus-Behandlung werden zum Teil immer noch Methoden angewendet, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nie belegt worden ist“, kritisieren beide.
Abhilfe durch Ersten Nationalen Pflegestandard
In Bezug auf die Dekubitusprophylaxe sei nun aber künftig „Schluss mit solchen Unsicherheiten“. In PRO ALTER weist Christine Sowinski darauf hin, dass im Jahr 2000 der erste deutsche „Nationale Expertenstandard in der Pflege“ zum Thema Dekubitusprophylaxe veröffentlicht worden sei. Juristisch gelte ein nationaler Expertenstandard als eine Art „vorweggenommenes Sachverständigengutachten“, erklärt Sowinski. Das habe erhebliche Konsequenzen für den Pflegealltag. „Die Umsetzung des Nationalen Pflegestandards ist nicht in das Belieben der einzelnen Pflege-Einrichtungen gestellt, sondern wird aus pflegefachlicher Sicht vorausgesetzt. Tritt ein Dekubitus auf, muss die Einrichtung nachweisen, dass sie dem Standard entsprechend gearbeitet hat.“ Könne eine Pflegeeinrichtung aber nicht nachweisen, dass sie alles fachlich Erforderliche zur Vermeidung eines Druckgeschwüres unternommen hat, kann es dazu kommen, dass sie die Kosten für die Behandlung des Dekubitus in einem Krankenhaus tragen muss. „Leider ist aber in vielen Einrichtungen dieser Standard noch nicht bekannt oder er wird nicht als relevant erachtet“, beklagt Christine Sowinski.
Dass es auch anders geht, zeigen die positiven Beispiele in dem KDA-Magazin. So habe die gelungene Einführung des Expertenstandards im Haus zum Guten Hirten in Bocholt zu einer spürbaren Verbesserung geführt. „Vor allem die Reaktionszeit beim Auftreten eines Dekubitus hat sich verringert“, berichtet Renate Jormann, die Projektbeauftragte zur Einführung des Pflegestandards, in PRO ALTER. „Rötungen an Ferse, Ohren oder entlang der Wirbelsäule sind früher nicht richtig erkannt worden, und unter Umständen dauerte es fast zwei Wochen, bis der Pflegedienstleitung die Hautveränderungen gemeldet worden sind. Heute verstecken sich die Mitarbeiter nicht mehr aus Angst vor Pflegefehlern, sondern teilen schon erste Rötungen mit.“
Bei der Evangelischen Altenhilfe Gesundbrunnen e.V. in Hofgeismar hat man sich entschlossen, eine Art „Dekubitus-Task-Force“ einzurichten. Dahinter verbirgt sich eine unbefristete Stelle für eine examinierte Altenpflegerin, der jedes aufgetretene Druckgeschwür gemeldet werden muss und die den Behandlungs- und Heilungsverlauf begleiten wird, schreibt PRO ALTER.
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