Satt aber krank: Neues Saatgut für Entwicklungsländer könnte helfen, verdeckten Hunger zu lindern
Satt sein alleine reicht nicht! Über die Hälfte der Menschheit leidet am so genannten verdeckten Hunger: Krankheit durch Vitamin- und Mineralstoffmangel – mit zum Teil verheerenden Folgen sowohl für das individuelle Wohlbefinden als auch für die Volkswirtschaften.
In dreijähriger Untersuchung berechnete Agrarökonom Dr. Alexander J. Stein an der Universität Hohenheim, dass betroffenen Bevölkerungsschichten mit natürlich angereichertem Reis und Weizen umfassender und kostengünstiger geholfen werden könnte als mit bisherigen Maßnahmen, wie etwa der Verteilung synthetischer Vitaminpräparate. Seitens des Universitätsbundes wurde seine Forschung mit dem Wissenschaftspreis der Universität Hohenheim ausgezeichnet.
Grundlage der Untersuchung waren die Ernährungsgewohnheiten von 120.000 Haushalten in Indien.
Als Ernährungsproblem wird der verdeckte Hunger bislang weltweit unterschätzt. Dabei handelt es sich um eine einseitige Ernährung, die durch Vitamin- und Mineralstoffmangel gekennzeichnet ist und dem menschlichen Körper mit der Zeit erheblichen Schaden zufügt. „In den ärmeren Gesellschaftsteilen von Entwicklungsländern, wo Möglichkeiten und Mittel zu einer ausgewogenen Ernährung fehlen, ist das Phänomen weit verbreitet“, sagt Dr. Alexander J. Stein und stützt sich auf die Auswertung der Ernährungsgewohnheiten von 120.000 Haushalten in Indien.
An den Folgen der drei wichtigsten Mangelerscheinungen – Eisen-, Zink- und Vitamin A-Mangel – sterben in Indien jedes Jahr über 175.000 Menschen, zumeist Kinder. Dies ist jedoch nur eine Minderheit all derjenigen, die an Mikronährstoffmangel leiden. Die Mehrheit der Mangelernährten überlebt, ist aber in ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung zurückgeblieben, erblindet, physisch geschwächt und allgemein kränklich. Diese gesamte Krankheitslast beinhaltet den jährlichen Verlust von 9,1 Millionen „gesunden Lebensjahren“, einer in der Gesundheitsökonomie benutzten Recheneinheit. Bei einer rein wirtschaftlichen Bewertung entspricht dies einem Verlust von zwei bis drei Prozent des indischen Bruttosozialprodukts.
Angesichts der humanitären und wirtschaftlichen Dimensionen des verdeckten Hungers wird von staatlicher Seite versucht, den Mangelerscheinungen zum Beispiel mit Vitaminpräparaten in Pillenform entgegen zu wirken. Doch „diese Methode greift nur in begrenztem Umfang und in den leichter zugänglichen Bereichen eines Landes – ein Großteil der ländlichen Bevölkerung bleibt unversorgt“, beobachtete Dr. Stein.
Selbst wenn die gängigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Mikronährstoffmangel allgemein als kostengünstig angesehen werden, so sind die Vitamin- und Mineralstoffpräparate im Vergleich dennoch verhältnismäßig teuer. Vielversprechender ist es, Grundnahrungsmittel wie Reis und Weizen mit den notwendigen Inhaltsstoffen anzureichern. Je nach Mineralstoff und Getreideart halten es die beteiligten Pflanzenzüchter für möglich, den Mikronährstoffgehalt durch klassische Züchtung um 20 bis 170 Prozent zu steigern. Nach Steins Berechnungen kann das Problem des verdeckten Hungers dadurch mehr als halbiert werden. Den Vitamin A-Mangel von Reis essenden Bevölkerungsgruppen kann die klassische Züchtung nicht lindern, da es keine geeigneten Reissorten gibt, die gekreuzt werden könnten: Betakarotin, ein Vorprodukt für Vitamin A, ist in Reiskörnern nicht enthalten. Doch hier gibt es Ansätze aus der Gen-Forschung, bei der das benötigte Betakarotin in die Pflanzen hineingezüchtet wird.
Auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind diese Züchtungsanstrengungen nach Steins Berechnungen sehr vorteilhaft: Bei herkömmlichen Programmen zur Bekämpfung von Mikronährstoffmangel, wie der industriellen Anreicherung von Lebensmitteln oder der Verteilung vom pharmazeutischen Mikronährstoffpräparaten, liegen die Kosten zur Rettung eines „gesunden Lebensjahres“ je nach Mikronährstoff bei 5,60 bis 600 US-Dollar. Die Rettung eines gesunden Lebensjahres durch natürliche Anreicherung soll je nach Mikronährstoff hingegen nur 0,50 bis 35 US-Dollar kosten – und damit deutlich unter der von der Weltbank vorgegebenen Wirtschaftlichkeitsgrenze von 200 US-Dollar pro gesundem Lebensjahr liegen.
Um die Akzeptanz der neuen Sorten zu erhöhen, wird laut Dr. Stein daran gearbeitet, mit den Inhaltsstoffen auch den Ertrag zu steigern: „Das Saatgut soll nicht nur den verdeckten Hunger bekämpfen, sondern dem Bauern auch einen wirtschaftlichen Zusatznutzen bringen. Das kann dadurch erreicht werden, dass bei der Züchtung neben dem Mikronährstoffgehalt auch auf die Erträge und andere agronomische Eigenschaften geachtet wird.“ Am Ende lösen sich damit mehrere Probleme zugleich, denn Dank des höheren Gewinns würden die Bauern auch die gesünderen Sorten anbauen.
Kontaktadresse:
Dr. Alexander J. Stein, Fachgebiet Internationaler Agrarhandel und Welternährungswirtschaft, Institut für Agrar- und Sozialökonomie in den Tropen und Subtropen, Universität Hohenheim (490b), 70593 Stuttgart
Tel.: 0711 459-23392, Fax: 0711 459-23762
E-Mail: astein1@uni-hohenheim.de, Internet: http://www.uni-hohenheim.de/i3ve/00032900/46431041.htm
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