Ein reaktives Mensch-Modell steigert unsere Verkehrssicherheit

Der Crash-Test-Dummy bekommt einen virtuellen Partner: Das reaktive Mensch-Modell. VIRTUAL VEHICLE

Damit lässt sich die Bewegung von Insassen vor allem unmittelbar vor Kollisionen deutlich genauer simulieren und auf lange Sicht die Sicherheitssysteme in Fahrzeugen weiter verbessern.

Das numerische Simulationsmodell OM4IS (Occupant Model for Integrated Safety) bildet den menschlichen Körper mit seinen Muskeln virtuell nach und berücksichtigt besonders auch die Pre-Crash-Phase.

Pro Tag sterben täglich rund 75 Menschen auf Europas Straßen. Das österreichische VIRTUAL VEHICLE Research Center entwickelt mit Forschungspartnern wie der TU Graz und Industriepartnern wie Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen ein neuartiges, reaktives Mensch-Modell für Unfallszenarien.

Damit lässt sich die Bewegung von Insassen vor allem unmittelbar vor Kollisionen deutlich genauer simulieren und auf lange Sicht die Sicherheitssysteme in Fahrzeugen weiter verbessern. Das numerische Simulationsmodell OM4IS (Occupant Model for Integrated Safety) bildet den menschlichen Körper mit seinen Muskeln virtuell nach und berücksichtigt besonders auch die Pre-Crash-Phase.

In den Sekunden vor dem Aufprall gibt es nämlich eine besonders große Vielfalt an möglichen Bewegungsreaktionen der Insassen. Hier versagen klassische Crash-Tests mit Dummies. Das Projekt OM4IS wurde für den renommierten österreichischen Fast Forward Award, dem Wirtschaftspreis des Landes Steiermark nominiert. Am 11. September 2014 werden die Gewinner in der Grazer Stadthalle ausgezeichnet.

Die Fahrzeugindustrie hat schon viel in die Entwicklung von Sicherheitssystemen investiert. Neben der laufenden Verbesserung von passiven Systemen wie Gurte, High-Tech-Sitze oder Airbags wird nun zunehmend auch an aktiven Systemen zur Gefahrenerkennung oder Bremsassistenten gearbeitet. Die Anzahl der Verkehrstoten konnte so schon deutlich gesenkt werden. Trotzdem sterben noch 75 Menschen pro Tag auf Europas Straßen. 75 Menschen zu viel. Die Europäische Kommission hat sich zum Ziel gesetzt die Zahl an Todesopfern bis 2020 zumindest zu halbieren.

Um die Wirksamkeit passiver Sicherheitssysteme zu überprüfen, kamen bislang vor allem Crash-Tests zum Einsatz. In diversen Aufprallversuchen werden dabei die Belastungen auf Insassen durch Dummies, dem Menschen nachgebaute und mit zahlreichen Sensoren bestückte Puppen, nachgestellt. Sehr wichtig ist aber bei Unfällen nicht nur die reine Crash-Phase, sondern auch die Pre-Crash-Phase.

Denn wenige Sekunden vor dem Aufprall versucht der Mensch sich durch Schutzbewegungen und Muskelaktivitäten auf den Unfall vorzubereiten. So kann sich die Position des Insassen beim Unfall stark von der Normalsituation unterscheiden. Das hat wiederum große Auswirkungen auf die Schutzfunktion von Sicherheitssystemen wie Airbag und Co. Faktoren wie diese konnten bislang mit Crash-Test-Dummies nicht erfasst werden. Simulationen helfen besonders auch bei der Entwicklung aktiver Sicherheitslösungen. Bei den passiven Systemen sind die Verbesserungsmöglichkeiten schon nahezu ausgeschöpft.

Numerisches Simulationsmodell für integrale Sicherheit

Mit der numerischen Simulation menschlicher Bewegungen in der Pre-Crash-Phase ist eine realitätsnahe, virtuelle Auslegung integraler Sicherheitssysteme möglich, die bereits vor dem Aufprall eingreifen kann. So kann die Unfallschwere deutlich vermindert bzw. der Unfall sogar ganz vermieden werden. Bremsassistenten erkennen beispielsweise mithilfe von Kamera-Systemen die Gefahr noch vor dem Fahrer. Um solch neue, integrale Sicherheitssysteme entwickeln zu können, sind genaue Modelle über das Verhalten des Menschen bei Brems- und Lenkmanövern in Notsituationen entscheidend.

Das VIRTUAL VEHICLE hat das Mensch-Model entwickelt, um solche reaktiven und intuitiven Bewegungen in numerischen Simulationen abzubilden. Mit dieser Entwicklung können Fahrzeughersteller wie auch Zulieferer die Bewegungen von Insassen in Unfallszenarien besser verstehen und die neuen Erkenntnisse bei der Entwicklung der Sicherheitssysteme einfließen lassen.

Die große Herausforderung bei dem Projekt ist, in nur einem numerischen Modell zwei sehr unterschiedliche physikalische Bereiche zu erfassen. Einerseits die „sanfte“ Phase vor dem Crash und andererseits den „harten“ eigentlichen Aufprall mit sehr hohen Belastungen. Einige Sekunden vor dem Aufprall wirken je nach den Reibungseigenschaften der Reifen und Bremssystemen noch relativ geringe Kräfte auf die Insassen, die noch viele Reaktionsmöglichkeiten des Menschen erlauben. Beim Crash hingegen treten sehr hohe Beschleunigungen in nur rund 100 Millisekunden auf, was wiederum eine ideale Abstimmung der Wechselwirkung zwischen Gurt, Airbag und dem Fahrzeug-Interieur erfordert.

Reale Tests für realistische Simulationen

Um eine möglichst realitätsnahe und repräsentative Datenbasis zur Parametrierung des Simulationsmodells zu schaffen, kamen beim Projekt völlig neue Fahrzeugversuche zum Einsatz. Anstatt einfacher Schlittenversuche wurde das kinematische Verhalten (Erfassung der Bewegungen) von 60 Probanden direkt bei verschiedenen Notbrems-, Spurwechsel- und kombinierten Manövern im Fahrzeug bestimmt um wirklich realitätsnahe Ergebnisse zu erzielen. Die Fahrzeugkinematik, die Insassenkinematik und die dabei auftretenden Muskelaktivitäten wurden während der Manöver exakt vermessen und aufgezeichnet.

Mit dem reaktiven Mensch-Modell OM4IS bekommt die Fahrzeugindustrie bei der Entwicklung und Auslegung integraler Sicherheitssysteme eine wichtige Unterstützung, um beispielsweise Notbremsassistenten weiterzuentwickeln oder die Airbag-Auslösung genau auf bestimmte Crash-Situationen anzupassen. Aktuell befindet sich das neue Simulationsmodell in der Weiterentwicklungs- und Testphase gemeinsam mit dem Partnership for Dummy Technology and Biomechanics, welche die Kooperationsplattform der deutschen Automobilhersteller Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen darstellt.

Zugleich kann das System wesentliche Antworten auf aktuelle Fragen bei der Entwicklung hoch-automatisierter oder autonomer Fahrsysteme bieten. Wie stark darf etwa in Notsituationen gebremst oder ausgewichen werden, ohne die Passagiere zu gefährden? Das neue Simulationsmodell ist nicht nur eine wertvolle Ergänzung um das Insassenverhalten vor einer Kollision zu simulieren und prognostizieren, sondern kann auch aufwendige und teure Crash-Test-Versuche ersetzen.

Das neue, reaktive Mensch-Modell des VIRTUAL VEHICLE wird deutlich dazu beitragen, die Sicherheit auf den Straßen weiter zu erhöhen. Damit rückt auch das ambitionierte Ziel der EU näher, die Zahl an Verkehrstoten bis zum Jahr 2020 zu halbieren. Kürzlich wurde das seit März 2009 laufende Projekt für den österreichischen Fast Forward Award nominiert. Am 11. September 2014 findet in der Grazer Stadthalle die Endrunde und Siegerehrung dieses renommierten österreichischen Wirtschaftspreises statt.

http://www.v2c2.at – VIRTUAL VEHICLE Research Center

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Elisabeth Pichler idw - Informationsdienst Wissenschaft

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