Arbeiten im Umspannwerk

Fluoreszenzgefärbte Körnerzellen im Hippocampus. © Stefan Remy<br>

Lernen und Gedächtnis sind ohne den Hippocampus des Gehirns nicht möglich. Eine zentrale Schaltstelle bei der Weitergabe von Informationen in den Hippocampus stellen die Körnerzellen dar: Ihre stark verzweigten Zellfortsätze, die Dendriten, empfangen einen Großteil aller von anderen Nervenzellen eingehenden Informationen.

Die genaue Erforschung der Körnerzell-Dendriten war allerdings aufgrund ihrer geringen Größe bisher kaum möglich. Ein an der Universität Bonn in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) entwickeltes Verfahren ermöglicht es nun, die winzigen Dendriten und ihre Eigenschaften besser zu untersuchen. Eine erste Studie liefert erstaunliche Erkenntnisse: Die Körnerzellen verarbeiten eingehende Informationen völlig anders als andere wichtige Neuronen im Gehirn.

Die Körnerzellen fungieren im Hippocampus als eine Art Umspannwerk: Sie empfangen Informationen aus dem entorhinalen Kortex – einer Hirnregion, die unter anderem beim Lernen und der räumlichen Orientierung eine wichtige Rolle spielt – verarbeiten sie und leiten sie dann in den Hippocampus weiter. Ein charakteristisches Merkmal der Körnerzellen ist ihr weit verzweigter Dendritenbaum: die kleinen Fortsätze entspringen am Zellkörper und verzweigen sich immer stärker, je weiter sie sich von diesem entfernen – ganz ähnlich wie die Wurzeln vieler Pflanzen. Der Durchmesser der Dendriten wird dabei immer kleiner. Gerade an den kleinsten Dendriten endet jedoch ein Großteil der synaptischen Signale, über die die Nervenzellen des entorhinalen Kortex Informationen an die Körnerzellen weitergeben.

Heinz Beck und Roland Krueppel vom Labor für Experimentelle Epileptologie und Kongnitionsforschung an der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn und Stefan Remy vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen etablierten nun ein Verfahren, mit dem sich die winzigen Dendriten in lebenden Hirnschnitten sichtbar machen lassen. Die Wissenschaftler platzierten dann zwei kleine Glaselektroden im Zellkörper sowie im Dendrit einzelner Körnerzellen, um zu untersuchen, wie die Signale von der Synapse zum Zellkörper fortgeleitet werden. Mit Hilfe eines zweiten Verfahrens, genannt Multi-photonen Glutamatuncaging, simulierten sie die Aktivierung von Synapsen an den Dendriten. Dazu setzten sie an einzelnen Synapsen per Lichtimpuls Neurotransmittersubstanzen frei.

Die Untersuchungen zeigten, dass die Dendriten der Körnerzellen die einkommenden synaptischen Signale stark abschwächen. Einzelne Synapsen haben daher einen nur geringen Einfluss auf die Aktivität der Körnerzellen. Die Forscher errechneten, dass an Körnerzellen rund 55 Synapsen-Signale benötigt werden, um ein Aktionspotential zu erzeugen. An Pyramidalneuronen hingegen, einem anderen zentralen Typ von Nervenzellen im Gehirn, reichen bereits etwa 5 Synapsen, um eine solches Aktionspotential hervorzurufen. „Das ist deshalb von Bedeutung, weil in Nervenzell-Netzwerken Informationen nur dann an andere Neuronen weitergegeben werden, wenn ein Aktionspotential erzeugt und weitergeleitet wird“, erläutert Stefan Remy vom DZNE.

Körnerzellen verrechnen die Botschaften einzelner Synapsen linear, berichten die Wissenschaftler weiter: 1 + 1 + 1 ergibt nach diesem Modell 3. Andere Neuronen hingegen verstärken die Information einzelner Synapsen, sobald ein gewisser Schwellenwert erreicht ist. 1+1+1 ergibt dann zum Beispiel 5. Eine Signalverstärkung erfolgt bei vielen Nervenzellen auch dann, wenn viele Synapsen zeitgleich feuern. Auch in diesem Fall bilden die Körnerzellen eine Ausnahme: „Körnerzellen zeigen sich ziemlich unabhängig von so einer Synchronität“, erklärt Stefan Remy. „Man kann sagen, dass sie einfach stur die Zahl der erregenden Synapsen zusammenrechen und erst dann ein Aktionspotential freisetzen, wenn ein kritischer Wert erreicht ist.“

„Unsere Beobachtungen lassen sich vor allem dadurch erklären, dass die Körnerzell-Dendriten viel weniger und andere Typen von spannungsabhängigen Ionenkanälen haben als andere Nervenzellen“, erläutert Stefan Remy. „Die synaptische Erregung wird also anders weiterverarbeitet.“ Über den genauen Sinn hinter dieser Art der Informationsverarbeitung, können die Forscher bisher nur spekulieren. „Es scheint, dass die Körnerzellen wie eine Art Filter fungieren,“ so Remy. „Eine hohe Aktivität in den vorgeschalteten Nervenzell-Netzwerken wird in weniger, aber gezielte Aktivität umgewandelt.“

Bekannt ist, dass schon kleine Veränderungen in der Verarbeitung synaptischer Signale die Ausgangssignale verändern und damit die Aktivität ganzer Nervenzell-Netzwerke beeinflussen. Solche Veränderungen tragen vermutlich auch zu den kognitiven Defiziten bei, die mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder mit Epilepsien einhergehen.

„Durch die Entwicklung besserer Untersuchungsmethoden können wir die Vorgänge im gesunden Gehirn besser erforschen und verstehen“, sagt Remy. „Denn trotz intensiver Forschung und vieler neuer Erkenntnisse ist letztlich immer noch nicht klar, wie Lernen und Gedächtnis auf zellulärer Ebene funktioniert. Erst wenn wir das verstehen, können wir auch verstehen, was im erkrankten Gehirn schief läuft.“

Originalarbeit:
Roland Krueppel, Stefan Remy, and Heinz Beck: Dendritic integration in hippocampal dentate granule cells. Neuron, Volume 71, Issue 3, 512-528, 11 August 2011, DOI: 10.1016/j.neuron.2011.05.043

Kontaktdaten:

Dr. Stefan Remy
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
c/o Uniklinik Bonn
Sigmund-Freud-Str. 25
53105 Bonn
Tel: +49 (0) 228 / 28751-605
stefan.remy(at)dzne.de
Dr. Katrin Weigmann
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE)
Holbeinstr. 13-15
53175 Bonn
Tel: 0228 43302 263
Mobil: 01735471350
katrin.weigmann(at)dzne.de

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Weitere Informationen:

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