Warum wachsen Pflanzen nach oben? Neue Faktoren und Konzepte in der Schwerkraftwahrnehmung
Pflanzen nehmen eine Vielzahl von physikalischen Reizen wahr. Auf die Stimulation reagieren sie mit Änderungen in der Wachstumsrate oder -richtung und mit Änderungen im Stoffwechsel. Seit einigen Jahren wird die Beteiligung von Inositol-haltigen Phospholipiden oder Phosphoinositiden an Signalleitungsprozessen in Pflanzen erforscht, die nach Stimulation durch Licht, osmotischen Stress, Verletzung oder Umorientierung erfolgen. Ähnlich den rapiden, Hormon-induzierten Signalleitungsprozessen tierischer Zellen werden auch in Pflanzen nach Stimulation Signalmoleküle produziert, die den physikalischen Reiz in ein intrazelluläres Signal übersetzen. Bislang wurde der Phosphoinositid-Stoffwechsel in Pflanzen hauptsächlich in einem zeitlichen Rahmen von Stunden untersucht. Dahingegen sind rapide biochemische Änderungen in pflanzlichen Geweben, die innerhalb von wenigen Sekunden auftreten, in nur wenigen Studien gezeigt worden. Zur Entdeckung eines der schnellsten pflanzlichen Wahrnehmungsprozesse hat unter anderem das Forschungsprojekt von Dr. Ingo Heilmann geführt. Es zeigt eine neue Funktion für das Signalmolekül Inositol 1,4,5-trisphosphat in der Vermittlung von direktionalem Wachstum bei Pflanzen an. Im Rahmen seiner Doktorarbeit unter der Leitung von Professor Dr. Claus Schnarrenberger (Institut für Biologie der FU Berlin; Pflanzenphysiologie) hat Dr. Ingo Heilmann unter anderem die Signalleitungsprozesse während der Schwerkraftwahrnehmung von Mais- und Haferpflanzen erforscht. Der experimentelle Teil der Doktorarbeit wurde bei Prof. Dr. Wendy Boss an der North Carolina State University durchgeführt.
Werden Pflanzen durch Winddruck, Regen oder experimentelle Gravistimulation aus ihrer vertikalen in eine horizontale Position gebracht, so richten sie sich durch differentielles Wachstum wieder in die Vertikale auf. Diese Reaktion erfolgt auch im Dunkeln, sie ist also nicht lichtabhängig. Das Absinken dichter Partikel, der stärkehaltigen Amyloplasten (Plastiden in pflanzlichen Zellen), in sensitiven Zellen steht einer weithin akzeptierten Theorie zufolge am Beginn der Schwerkraftwahrnehmung bei Pflanzen. Änderungen im Druck der Amyloplasten auf Membranzisternen oder Komponenten des Zytoskelettes rufen in den Zellen eine Kaskade biochemischer Signale hervor, die das anfängliche Signal verstärkt und im Gewebe ausbreitet. Über die Natur der biochemischen Signale, besonders in frühen Phasen der Kaskade, war bislang nichts bekannt.
Anders als in dikotylen (zweikeimblättrigen) Pflanzen, die eine graduelle Krümmung über weite Strecken der Sproßachse zeigen, um aus horizontaler Lage in die Vertikale zu wachsen, erfolgt in Mais und vielen anderen Gräsern die Krümmung ausschließlich in spezialisierten Geweben, den sogenannten „Pulvini“. Die Sproßachse von Maispflanzen ist für die Untersuchung der gravitropen Krümmungsreaktion (weil sie durch den Schwerkraftvektor bedingt ist) aus zwei Gründen besonders geeignet: 1.) Sowohl die Wahrnehmung durch Amyloplasten als auch die Krümmungsreaktion selbst finden im Pulvinus statt. 2.) Es muß deshalb die Signalleitungskaskade, die Wahrnehmung und Reaktion verbindet, ebenfalls im Pulvinusgewebe vorliegen.
Durch die getrennte Analyse von oberen und unteren Hälften von Mais-Pulvini nach Gravistimulation konnte gezeigt werden, dass ein 5-facher Anstieg in der Konzentration von Inositol 1,4,5-trisphosphat (InsP3) in der unteren Hälfte des Pulvinus schon innerhalb weniger Sekunden nach Gravistimulation erfolgt. Die Schnelligkeit dieses Signals war überraschend, da die Pflanzen erst nach einer Stimulationsdauer von über zwei Stunden auf eine Krümmungsreaktion festgelegt sind. Pflanzen, die für weniger als die Präsentationszeit von zwei Stunden gravistimuliert werden, zeigen keine Krümmungsreaktion. Eine Analyse der InsP3-Konzentrationen im Pulvinusgewebe über mehrere Stunden zeigte, dass der InsP3-Spiegel in der unteren Pulvinushälfte gravistimulierter Pflanzen vor dem Einsetzen der Krümmungsreaktion bis zu 5-fach ansteigt. Dieser Anstieg korreliert zur Dauer der Gravistimulation: je länger die Stimulusdauer, desto größer der Anstieg in InsP3 in der unteren Pulvinushälfte. Bei Unterbrechung der Gravistimulation sinkt der InsP3-Spiegel wieder auf den basalen Wert zurück. Diese Ergebnisse weisen auf eine Funktion von InsP3 als Positionssignal im Pulvinusgewebe hin, was über die bisher bekannte Funktion als kurzlebiger „second messenger“ hinausgeht. Ähnliche Prozesse kommen während der Embryonalentwicklung beim Krallenfrosch oder beim Zebrafisch vor, waren aber bislang nicht von Pflanzen bekannt. Pharmakologische Unterdrückung der InsP3-Bildung verhindert in Haferpflanzen das für die gravitrope Reaktion nötige Positionssignal.
Niedrige Temperaturen (4° C) unterdrücken in vielen Pflanzen die Krümmungsreaktion nach Gravistimulation. Werden die Pflanzen jedoch bei 4° C stimuliert, in die Vertikale gebracht und dann bei Raumtemperatur gehalten, zeigen sie in vielen Fällen gravitropes Wachstum entsprechend dem bei 4° C wahrgenommenen Reiz. Dieser „Gedächtnis“-Effekt ist seit langem bekannt, konnte jedoch bislang nicht befriedigend erklärt werden. Die Untersuchung von InsP3-Signalen in Haferpflanzen, die bei verschiedenen Temperaturen gravistimuliert wurden, zeigte, dass bei 4° C die InsP3-Signale fast unverändert erzeugt werden, während andere Faktoren, z.B. die Verteilung des Phytohormones Auxin, nicht stattfinden. InsP3 könnte daher ein Bestandteil des positionalen „Gedächtnisses“ der Pflanzen sein.
Während der Schwerkraftwahrnehmung können im Maispulvinus also rapide und langfristige Änderungen im InsP3-Spiegel unterschieden werden. Dieses Muster konnte auch in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Peter Kaufman (University of Michigan) in gravistimulierten Haferpflanzen bestätigt werden. Wachstum ist ein „kostenintensiver“ Prozess für eine Pflanze und nicht umkehrbar. Die aufgewendete Energie kann nicht wiedergewonnen werden. Zwei-phasige InsP3-Signale könnten Teil eines Mechanismus’ sein, der den Pflanzen ermöglicht zu „entscheiden“, ob ein Stimulus lange genug vorliegt, um eine Krümmungsreaktion zu rechtfertigen. Mit Einsetzen der Gravistimulation werden Oszillationen (d.h. Folgen von vorübergehenden Anstiegen) der InsP3-Konzentration in Gang gesetzt, die für die Länge der Präsentationszeit andauern, und die eventuell an der Messung einer Mindestdauer der Stimuation beteiligt sind. Nach Überschreiten der Präsentationszeit erfolgt ein gradueller Anstieg in der InsP3-Konzentration, während dessen die Intensität der Krümmungsreaktion noch der Stimulationsdauer angepasst werden kann. Sobald die Pflanzen mit dem differentiellen Krümmungswachstum beginnen, fällt interessanterweise der InsP3-Spiegel auf den Basallevel zurück, auch wenn die Stimulation noch andauert. Die Pflanzen sind zu diesem Zeitpunkt irreversibel auf eine Wachstumsreaktion festgelegt.
Die beschriebenen Ergebnisse wurden beim Jahrestreffen der „American Association for the Advancement of Science“ (AAAS) präsentiert und in folgenden Fachzeitschriften publiziert:
– I.Y. Perera, I. Heilmann, W.F. Boss (1999) „Transient and sustained increases in inositol 1,4,5-trisphosphate precede the differential growth response in gravistimulated maize pulvini“, in: Proc Natl Acad Sci USA 96, S. 5838 ff.
– I.Y. Perera, I. Heilmann, S.C. Chang, W.F. Boss, P.B. Kaufman (2001) „A role for inositol 1,4,5-trisphosphate in gravitropic signaling and the retention of cold-perceived gravistimulation of oat shoot pulvini“ in: Plant Physiology 125: S. 1499 ff.
Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne:
Dr. Ingo Heilmann, Department of Botany, North Carolina State University, Box 7612, Raleigh, NC 27695-7612, USA, Tel.: 001 / 919 / 515-6043, E-Mail: ingo_heilmann@ncsu.edu
Univ.-Prof. Dr. Claus Schnarrenberger und Dr. habil. Wolfgang Gross, Institut für Biologie der Freien Universität Berlin (Pflanzenphysiologie), Königin-Luise-Str. 12-16, 14195 Berlin-Dahlem, Tel.: 030 / 838-53123, E-Mails: schnarre@zedat.fu-berlin.de,galdi@zedat.fu-berlin.de
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