Die Zelle wird berechenbar
Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik komplexer technischer Systeme liefern vielversprechende Ansätze zur Entwicklung einer „virtuellen Zelle“
Tagtäglich generieren die Biowissenschaftler, beispielsweise in der Genomforschung, eine Fülle neuer Daten. Trotzdem ist die Frage, wie aus der Summe der zellulären Einzelteile und ihrer Interaktionen das beobachtbare Verhalten entsteht, nach wie vor offen. In der noch jungen „Systembiologie“ werden experimentelle und theoretische Untersuchungsmethoden miteinander kombiniert, um einem umfassenden Verständnis lebender Zellen näher zu kommen. Anhand des Stoffwechsels eines Bakteriums gelang es jetzt Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg sowie des Max-Delbrück-Zentrums für molekulare Medizin in Berlin erstmals, auf der Basis einer theoretischen Analyse der Netzwerkstrukturen in der Zelle wichtige Aspekte des Zellverhaltens, seiner Flexibilität und der Genregulation quantitativ vorherzusagen. Ihre Ergebnisse, die weitergehende Einblicke in die Konstruktionsprinzipien zellulärer Funktionen erlauben, haben die Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe von Nature (14. November 2002) veröffentlicht.
Lebende Zellen zeichnen sich durch eine außerordentliche Komplexität von Stoffwechsel- und Regulationsnetzwerken aus. Schon bei einfachen Bakterien umfassen diese Netzwerke mehrere tausend Komponenten, die miteinander wechselwirken. Intuitiv lässt sich diese Komplexität nicht mehr erfassen. Die relativ neue Forschungsrichtung „Systembiologie“ kombiniert experimentelle und theoretische Untersuchungsmethoden, um auf diesem Wege einem umfassenden Verständnis lebender Zellen näher zu kommen. Dabei stützen sich die theoretischen Ansätze wesentlich auf die Entwicklung und Analyse mathematischer Modelle, die das zu untersuchende biologische System zunächst einmal möglichst realitätsnah abbilden sollen. Ähnlich wie bei den schon viel weiter fortgeschrittenen Simulationsstudien beispielsweise in der Fahrzeugentwicklung, wollen die Wissenschaftler mit Hilfe ihrer mathematischen Modelle quasi die Voraussetzungen für ein „virtuelles Labor“ in der Biologie schaffen: Experimente sollen in Analogie zur realen Laborsituation auf effiziente Weise am Computer durchführbar werden.
Wichtige Reaktionen z.B. des Stoffwechsels oder der Regulation müssen erfasst und mathematisch beschrieben werden. Für detaillierte Modelle, welche tatsächlich auch die Dynamik des Systems wiedergeben können, erfordert dies allerdings ein weitreichendes Vorwissen über Bindungsstärken zwischen einzelnen Komponenten und Reaktionsgeschwindigkeiten. Das ist häufig nicht verfügbar. Für ein ‚gröberes Modell, das auf der Annahme basiert, dass sich die Reaktionen innerhalb der Zelle im Gleichgewicht befinden, reicht allerdings die Kenntnis der Netzwerkstruktur aus. Speziell für den bakteriellen Stoffwechsel ist der Zusammenhang zwischen den Einzelreaktionen, ihren Ausgangs- und Endprodukten in (wandkartengroßen) Netzwerkabbildungen und entsprechenden Datenbanken gut dokumentiert.
Netzwerkstrukturanalysen wurden z. B. angewendet, um festzustellen, inwieweit sich Gendefekte auf die Lebensfähigkeit eines Organismus auswirken. Dabei richtete sich das Augenmerk der Wissenschaftler vor allem auf jene Gene, die die Bauanleitung für Enzyme, also Biokatalysatoren im Stoffwechsel, tragen. Fundamentale Fragen blieben allerdings bislang unbeantwortet: Wird mit der Struktur des Stoffwechsels bereits die beobachtbare hohe Anpassungsfähigkeit von lebenden Organismen an wechselnde Umweltbedingungen und interne Schädigungen festgelegt? Und welche Rolle spielt hierbei die genetische Regulation? Genau diesen Fragen widmet sich das Kooperationsprojekt zwischen dem Magdeburger Max-Planck-Institut und dem Max-Delbrück-Zentrum.
Ausgangspunkt für die Untersuchungen der Wissenschaftler war die Zerlegung komplexer Stoffwechselnetzwerke in ihre kleinsten funktionalen Einheiten, die so genannten Elementarmoden. Diese charakterisieren die Netzwerkstruktur eindeutig, und durch Überlagerung werden dann auch alle in diesem Netzwerk möglichen Verteilungen von Stoffflüssen mathematisch erfasst. Die Methode der Elementarmodenzerlegung wurde von den Magdeburger und Berliner Wissenschaftlern erstmals auf ein Netzwerk realistischer Komplexität angewendet.
Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stand der zentrale Stoffwechsel des Darmbakteriums Escherichia coli, eines gut untersuchten Modellorganismus. Das Stoffwechselmodell (siehe Abbildung) umfasst 89 Komponenten und 110 Reaktionen. Es ermöglicht die Beschreibung von Nährstoffaufnahme, -umsetzung und Zellwachstum. Die Analyse dieses Netzwerkes ergab, dass es sich – je nach dem verwerteten Nährstoff – in bis zu eine halbe Million Funktionseinheiten zerlegen lässt. Die Anzahl der Elementarmoden entspricht der Anzahl alternativer Stoffwechselwege und spiegelt somit die Flexibilität des Stoffwechsels wieder.
Das Modell ermöglicht den Wissenschaftlern nun zu simulieren, was im Falle eines Gendefekts passiert. Wenn für eine bestimmte Situation kein Elementarmodus existiert – so die Modellannahme – sollte eine solche Deletionsmutante nicht überleben können. Im Vergleich mit publizierten experimentellen Befunden zeigte sich, dass die Methode tatsächlich mit 90%-iger Zuverlässigkeit eine Vorhersage erlaubt, ob Zellen mit genetischen Defekten überlebensfähig sind. Damit liefert sie einen starken Indikator für das Verhalten des Organismus.
Eine zentrale Frage in der Systembiologie ist, warum Organismen in der Regel sehr robust auf interne oder externe Störungen reagieren. Intuitiv ist anzunehmen, dass dies mit der Flexibilität des – in diesem Fall – zellulären Stoffwechsels zusammenhängt. Die von den Magdeburger und Berliner Wissenschaftlern weiterentwickelten theoretischen Methoden bestätigten diese Annahme: Gendefekte beinträchtigen das Wachstum der Zelle in vielen Fällen weder qualitativ noch quantitativ. Ein Grund dafür ist ganz offensichtlich die starke Redundanz von Stoffwechselwegen. Darüber hinaus konnten die Forscher zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Gendefekt durch den Organismus toleriert wird, direkt mit der Anzahl der Elementarmoden korreliert.
Voraussetzung für die „Robustheit“ der realen Zelle ist, dass die von den Forschern im Modell simulierten alternativen Stoffwechselwege tatsächlich auch installiert werden. In biochemischen Untersuchungen ist es bislang nicht gelungen, eine direkte Verbindung zwischen Flüssen im Stoffwechsel und Transkriptmengen zu finden. Mit der neu entwickelten Form der Netzwerkanalyse war es den Wissenschaftlern nun möglich, Muster der Genexpression allein aus der Struktur des Stoffwechsels vorherzusagen. Ein für das Verständnis der Logik der zellulären Regulation wichtiger Befund ist dabei, dass die Zellen nicht nur die (momentane) Wirksamkeit ihres Stoffwechsels maximieren, sondern offenbar gleichzeitig mögliche Störungen quasi vorausahnen. Die theoretischen Modelle liefern somit auch interessante neue Untersuchungsansätze für die experimentelle Biochemie.
Innerhalb des neuen Gebietes der Systembiologie können die durch die Magdeburg-Berliner Kooperation erzielten Ergebnisse zu einem tieferen Verständnis von Grundprinzipien der Funktionsweise lebender Zellen verhelfen. Direkte Anwendungsmöglichkeiten bieten sich darüber hinaus bei der Suche nach Eingriffsmöglichkeiten in zelluläre Systeme, z.B. für die Identifikation von möglichen Zielen für neuartige Medikamente, oder bei der Optimierung von biotechnologischen Prozessen.
Jörg Stelling
Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme
Sandtorstr. 1
39106 Magdeburg
Tel.: 03 91 / 61 10 – 4 75
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