Martinsrieder "Neuro-Chip" jetzt in industrieller Entwicklung
Max-Planck-Institut für Biochemie und Infineon Technologies AG präsentieren industriell gefertigten Neuro-Chip / Anwendung in Neurowissenschaften und Pharmaentwicklung
Nervensystem und Computer funktionieren elektrisch. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Biochemie arbeiten deshalb seit Jahren an der Frage, wie man beide Systeme direkt miteinander vernetzen könnte. Im Jahr 1991 setzten sie erstmals eine Nervenzelle von einem Blutegel auf einen Computerchip, und ein Transistor fing die von der Zelle ausgesandten Signale auf. 1995 gelang dieses Experiment dann auch in der Gegenrichtung: Eine Zelle wurde über einen Chip mit elektrischen Impulsen gereizt und antwortete darauf mit Aktionspotentialen, die als Signale gemessen werden konnten. Um in ihren Experimenten die Signale von lebenden Nervenzellen und Zellverbänden messen und an ein Computersystem weiterleiten zu können, bauten die Wissenschaftler bisher ihre Computerchips selbst. Jetzt hat die Infineon Technologies AG in enger Kooperation mit den Max-Planck-Forschern um Prof. Peter Fromherz einen Biosensor-Chip mit rund 16.400 Sensoren vorgestellt, der eine Erweiterung des in Martinsried gefertigten Chips darstellt. Der erstmals am 11. Februar 2003 auf der Fachkonferenz „International Solid-State Circuits Conference“ in San Francisco vorgestellte Neuro-Chip eröffnet neue Einblicke in die biologische Funktion von Nervenzellen, neuronalen Netzen und Hirngewebe.
Seit mehreren Jahren arbeitet die Abteilung Membran- und Neurophysik des Martinsrieder Max-Planck-Instituts für Biochemie mit der Infineon Technologies AG an der Entwicklung eines Neuro-Chips. Die Grundlagenforscher nutzten dazu bisher einen selbst hergestellten Chip mit einer linearen Anordnung von 128 Sensoren (Transistoren). Bei dem neuen, von Infineon Technologies AG in enger Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Biochemie entwickelten Biosensor-Chip sind die Transistoren jetzt flächig angeordnet. Insgesamt befinden sich auf einem Quadratmillimeter Chipfläche 128 x 128 Sensoren, also insgesamt 16.384. Dieser neue Chip der CMOS (Complementary Metal Oxide Semiconductor)-Technologie eröffnet insbesondere in den Neurowissenschaften vielversprechende Möglichkeiten. Jetzt ist es möglich, die elektrischen Signale von Nervenzellen, den so genannten Neuronen, und ganzen Neuronenverbänden im intakten Gewebe in bislang unerreichter Genauigkeit aufzunehmen und zu verarbeiten.
Wie auch schon bei dem in Martinsried entwickelten Chip erfolgt das Messen der neuronalen Signale der Nervenzellen auf dem Neuro-Chip über Sensoren. Die zu untersuchenden Nervenzellen werden dazu direkt auf dem Sensorfeld am Leben gehalten und können dort wieder zu neuronalen Netzen zusammenwachsen. Im Gegensatz zu klassischen Methoden der Neurophysiologie werden die Zellen auf dem Neuro-Chip durch die Messungen nicht gestört oder verletzt. Doch statt wie bislang einzelne Zellen sequentiell zu untersuchen, kann der jetzt entwickelte neue Neuro-Chip auf seinem Sensorfeld mehrere Zellen parallel vermessen. Jede aufgebrachte Nervenzelle liegt dabei auf mindestens einem Sensor. Dieser verstärkt und verarbeitet die extrem schwachen elektrischen Signale (maximal 5 Millivolt) der Zelle. Das wird möglich, weil der Abstand zwischen den Sensoren (acht Tausendstel Millimetern) kleiner ist als der Durchmesser eines Neurons (zehn bis 50 Tausendstel Millimeter). Jeder Sensor kann mindestens 2.000 Werte pro Sekunde aufzeichnen, die in ihrem zeitlichen Verlauf als farbiges Gesamtbild dargestellt werden. Die Forscher können damit erkennen, wie ganze Zellverbände über einen festgelegten Zeitraum auf elektrische Stimulation oder bestimmte Substanzen reagieren.
Von der Innovation versprechen sich die Wissenschaftler vor allem neue Erkenntnisse über das Miteinander der mehr als 100 Milliarden Nervenzellen in unserem Gehirn. Deshalb arbeitet die Arbeitsgruppe um Prof. Fromherz seit einiger Zeit mit Prof. Tobias Bonhoeffer und seinen Mitarbeitern im benachbarten Max-Planck-Institut für Neurobiologie zusammen. Die jetzt mögliche störungsfreie Beobachtung von intaktem Nervengewebe über einen längeren Zeitraum bietet den Neurobiologen kontinuierlichen Einblick in die Abläufe von Lern- und Gedächtnisvorgängen. Durch den Neuro-Chip können aber auch neue Erkenntnisse zum Verständnis der Wahrnehmung sowie der Verarbeitung und Speicherung von Informationen im Gehirn gewonnen werden. Um beispielsweise die Wechselwirkungen zwischen Zellen verschiedener Hirnareale zu untersuchen, kann man einzelne Nervenzellen oder intakte Gehirnschnitte auf den neuen Chip aufbringen und auf der Sensorfläche miteinander zu neuronalen Netzen verwachsen lassen. Das Zellgewebe bleibt dabei unverletzt und kann über mehrere Wochen am Leben gehalten werden. Die Erforschung des Zusammenwirkens der Nervenzellen im gesamten Gehirn sind wiederum wichtige Schritte, um eines Tages den heute noch unheilbaren Krankheiten des Gehirns besser begegnen zu können.
War es bisher den Max-Planck-Wissenschaftlern gelungen, Nervenzellen von Ratten und Schnecken zu stimulieren und deren Aktivität auch abzuleiten, so wurde der neu entwickelte Neuro-Chip im Max-Planck-Institut für Biochemie bisher nur mit Hirnzellen von Schnecken erfolgreich getestet. Jetzt geht es den Forschern deshalb darum, ihre Forschungsarbeiten auf dem neuen, technisch weiterentwickelten Biosensor-Chip fortzusetzen. Professor Dr. Peter Fromherz kommentiert aus Sicht der Bio-Physiker: „Hier geht ein Traum in Erfüllung, dass unsere langjährige Grundlagenforschung über hybride Neuron-Halbleiter-Systeme nun in einen High-Tech-Chip einmündet. Die gemeinsame Entwicklung des neuen Neuro-Chips ist ein hervorragendes Beispiel für eine geglückte Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und industrieller Entwicklung. Die ungewöhnliche Bereitschaft der Infineon Technologies AG, sich auf eine langfristig angelegte Entwicklungsarbeit einzulassen, zahlt sich nun aus.“ Die Sensibilität des Unternehmens, Vorgaben aus der Grundlagenforschung aufzunehmen, haben es ermöglicht, jetzt den Neuro-Chip aus dem „Eigenbau“ des Max-Planck-Instituts in die industrielle Entwicklung zu überführen. „Diese Entwicklung auf der Basis modernster Mikroelektronik eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für Anwendungen in Biomedizin, Biotechnologie und Hirnforschung“, so Fromherz. Vor allem in der Diagnostik könnte der Chip eingesetzt werden. Dass allerdings ein ins Gehirn eingesetzter Neurochip die menschliche Intelligenz oder die Gedächtnisleistung verbessern könnte oder gar eine Steuerung des Gehirns durch den Computer ermöglichen könnte, davon hält Fromherz überhaupt nichts. „Dies ist schlichtweg Science-Fiction“.
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Prof. Peter Fromherz
Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried bei München
Tel.: 089 8578 – 2820
Fax: 089 8578 – 2822
E-Mail: fromherz@biochem.mpg.de
Monika Sonntag
Infineon Technologies AG
Media Relations
Tel.: 089 234 – 24497
Fax: 089 234 – 28482
E-Mail: monika.Sonntag@infineon.com
Media Contact
Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie
Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.
Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.
Neueste Beiträge
Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen
An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…
Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean
20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….
Resistente Bakterien in der Ostsee
Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…