Kurzschluss im Gehirn
Forscher der Universität Bonn finden Gendefekt, der Epilepsie verursachen kann – Veröffentlichung in Nature Genetics am Montag, den 3. März 2003
Weltweit leiden rund 70 Millionen Menschen an einer so genannten idiopathischen Epilepsie. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein: sekundenlange Bewusstlosigkeit, Zuckungen der Arme oder Beine, aber auch schwere Krampfanfälle. Ein Forscherteam der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn konnte nun ein Gen identifizieren, das – wenn es nicht richtig funktioniert – sämtliche Formen häufig vorkommender idiopathischer Epilepsien auslösen kann.
Die Ergebnisse wurden jetzt im renommierten Wissenschaftsmagazin „Nature Genetics“ veröffentlicht (Nature Genetics Vol. 2003, publication online vom 3. März 2003). Die VolkswagenStiftung förderte das Projekt „Molekulare Analyse genetisch komplexer Epilepsien“ mit 1,16 Millionen Euro als eine ihrer „Nachwuchsgruppen an Universitäten“.
Der „Struwwelpeter“ liest sich streckenweise wie die Beobachtungen eines Epilepsie-Forschers. Hans Guck-in-die-Luft, dessen „Blick stets am Himmel hing“, bis er „Bauz! Perdauz!“ stürzte, könnte gut unter einer Absence-Epilepsie gelitten haben. „Diese Variante trifft meist Kinder im vierten und fünften Lebensjahr“, erklärt der Bonner Mediziner Dr. Armin Heils. „Sie werden für zehn oder zwanzig Sekunden bewusstlos, drehen ihre Augen zum Himmel, laufen dabei aber weiter – bis sie schließlich stolpern und stürzen.“ Andere Kinder werden im Alter von zehn oder zwölf Jahren plötzlich zum „Zappel-Philipp“: Nach dem Aufwachen oder am Frühstückstisch beginnen ihre Arme oder Beine plötzlich unwillkürlich zu zucken, sie fegen den Teller vom Tisch oder lassen ihren Kakaobecher fallen.
„Wir unterscheiden insgesamt sieben verschiedene Typen idiopathischer Epilepsien“, sagt Armin Heils. Am bedrohlichsten sind die so genannten Grand-Mal-Anfälle, die mit Bewusstlosigkeit, schweren Muskelkrämpfen und Schaumbildung vor dem Mund einhergehen. „Gemeinsam ist allen Formen, dass sie familiär gehäuft auftreten, die Veranlagung also vererbt wird. Einige seltene Varianten werden dabei durch einen einzigen Gendefekt ausgelöst.“ Die Bonner Epileptologen konnten nun – weltweit erstmalig – eine Erbanlage identifizieren, deren Störung verschiedene Typen idiopathischer Epilepsien hervorrufen kann. Welche der Varianten einer idiopathischen Epilepsie der Patient dann letztlich bekommt, hängt wahrscheinlich, so prognostizieren die von der Stiftung geförderten Forscher, von weiteren Genen ab.
Wie sind die Bonner Wissenschaftler zu ihren Ergebnissen gekommen?
Dazu bedarf es zunächst des Blicks auf das Entstehen einer Epilepsie auf zellulärer und molekularer Ebene. Jede Nervenzelle kommuniziert mit zahlreichen Nachbarzellen über elektrische Impulse. Ein epileptischer Anfall entsteht, wenn sich diese Impulse unkontrolliert ausbreiten: Schon ein einziges Ausgangssignal kann dann in Millionen von Nervenzellen eine entsprechende elektrische Antwort hervorrufen. Normalerweise wird das verhindert durch einen kleinen Botenstoff namens „GABA“, die Gamma-Amino-Buttersäure: Sie macht die Nervenzellen schwerer erregbar. So ist das Beruhigungsmittel Valium gewissermaßen ein GABA-Nachbau.
Ob GABA die Signalausbreitung allerdings wirksam bremsen kann, hängt von einem weiteren Faktor ab: der Chlorid-Konzentration in den Nervenzellen. Ist die nämlich zu hoch, wirkt der Botenstoff eher wie ein zusätzlicher Tritt auf’s Gaspedal. Das Epilepsie-Gen nun enthält den Bauplan für einen Kanal in der Zellwand, durch den Chlorid-Ionen aus den Nervenzellen nach außen gelangen können. Hat sich in den Bauplan ein Schreibfehler eingeschlichen, der den Kanal unbrauchbar macht, steigt die Chlorid-Konzentration in der Zelle an. Die Folge: GABA kann nicht mehr die gewünschte Wirkung entfalten – und es kommt zu epileptischen Anfällen.
Die Bonner Arbeitsgruppe untersuchte insgesamt 46 Familien, in denen mindestens zwei Mitglieder an einer idiopathischen Epilepsie erkrankt waren. „Bei drei dieser Familien war das Gen für den Chlorid-Kanal mutiert. Die erkrankten Familienmitglieder hatten jeweils das defekte Gen vererbt bekommen, die gesunden dagegen nicht“, erklärt Dr. Heils. In einer der Familien war der Kanal trotz der Mutation noch teilweise funktionsfähig; die Erkrankten hatten seltener epileptische Anfälle, die zudem schwächer verliefen als bei den Untersuchten der beiden anderen Familien. Zugleich fanden die Forscher wieder ein Indiz dafür, dass bei der Erkrankung noch andere Gene eine Rolle spielen, denn: „Die Betroffenen litten an völlig unterschiedlichen Formen der idiopathischen Epilepsie“, führt Heils weiter aus. Keine Veränderungen des Kanal-Gens fanden die Forscher hingegen bei den 360 gesunden Kontrollpersonen. Insgesamt ist damit den Bonner Wissenschaftlern ein wichtiger Erfolg gelungen mit Blick auf ein besseres Verständnis der Epilepsie-Erkrankungen.
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