Verkehrsstau in der Nervenzelle vorausgesagt
Die Nervenzellen unseres Körpers sind von einem dichten Netz von Wegen durchzogen, auf denen winzige biologische Transporter kleine mit lebenswichtigen Molekülen gefüllte Pakete transportieren. In der Abteilung Theorie des Berliner Hahn-Meitner-Instituts studieren Physiker anhand einfacher mathematischer Modelle die Eigenschaften des Straßenverkehrs in der Zelle. In einem Artikel, der kürzlich in der Zeitschrift Physical Review Letters erschienen ist, zeigen sie, dass es auf den Wegen in der Zelle zu einem Stau kommen kann, der stark demjenigen ähnelt, den wir von der Autobahn kennen: Die zellulären Transporter stehen dann so dicht hintereinander, dass sie sich gegenseitig den Weg versperren und kaum noch vorankommen können. Welche Rolle dieser unerwartete Effekt im Alltag der Zelle spielt, wird weitere Forschung zeigen müssen. Dabei ist ein genaues Verständnis der molekularen Transportprozesse nicht nur von akademischem Interesse: So soll etwa die Alzheimersche Krankheit darauf beruhen, dass wichtige Substanzen in den Nervenzellen den Ort nicht erreichen, an dem sie gebraucht werden.
Mikrotubuli weisen den Weg – dünne Fasern lenken den Transport in der Zelle
Nervenzellen bestehen aus einem zentralen Körper und mehreren – zum Teil sehr langen – Fortsätzen, den Dendriten und dem Axon, über die die Nervenimpulse geleitet werden. Viele Substanzen, die an den Enden der verschiedenen Fortsätze gebraucht werden, entstehen im Zellkörper und müssen dann in winzigen Bläschen (sogenannte Vesikeln) verpackt auf dem zellulären Wegenetz, einem Geflecht dünner Fasern – der Mikrotubuli – , das als Zytoskelett auch die Zelle stabilisiert, an ihr Ziel transportiert werden. Als Transporter dienen die knapp 100 nm großen Kinesinmoleküle, deren Fortbewegung in erstaunlichem Maße an menschliches Gehen erinnert: sie haben zwei „Beinchen“, die sie abwechselnd auf die Wege setzen, und darüber „Schultern“, auf denen sie Lasten tragen können. Dabei sind die Eigenschaften der Transporter und Wege genau aufeinander abgestimmt: Die Struktur der Wege legt die Bewegungsrichtung fest, so dass kein Transporter versehentlich die Last wieder an den Ausgangspunkt trägt. Kinesin wandert immer nur vom Zellkörper in die Außenbezirke der Zelle, den Transport in die Gegenrichtung übernehmen andere Moleküle. Die Wege bieten den Transportern in regelmäßigen Abständen Trittstellen an und legen so die Schrittlänge fest. Verpasst ein Transporter auf seiner Wanderung einmal eine solche Stelle, kommt er zwar vom Weg ab, findet aber rasch einen anderen, den er an beliebigem Ort betreten kann, um seine Reise fortzusetzen. Das legt die Analogie mit einem Autobahnnetz nahe, auf dem man an beliebiger Stelle von einer Autobahn auf eine benachbarte wechseln kann.
Mathematisches Modell beschreibt, wie Transportmoleküle vorankommen
Die Forscher am Hahn-Meitner-Institut bemühen sich, mit Hilfe mathematischer Modelle den Verkehr auf dem zellulären Wegenetz zu verstehen. Dazu verzichtet ihr Ansatz auf die Betrachtung der biochemischen Details des Prozesses und konzentriert sich auf die wesentlichen Eigenschaften, die den Verkehrsfluss bestimmen: die Tatsache, dass die Transporter sich auf einem Weg immer nur in eine Richtung bewegen, dass sie immer gleich große Schritte machen und mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit die Wege verlassen oder neu betreten. Wollte man in den Berechnungen den genauen Aufbau der Kinesinmoleküle und Mikrotubuli berücksichtigen, wären bald auch die leistungsfähigsten Computer überfordert. Für das Stauphänomen spielen aber solche Details vermutlich keine Rolle, so wie man auch mit einem Käfer oder einem Mercedes unabhängig von den Details der Motorleistungen im Stau stecken bleibt. Der gewählte Ansatz macht es möglich, Verkehrsflüsse mathematisch zu berechnen und so einen Überblick über die in der Zelle stattfindenden Transportvorgänge zu gewinnen. Der theoretische Ansatz hat aber nicht nur den Vorteil, dass Berechnungen möglich werden: Die Konzentration auf fundamentale Eigenschaften hilft auch, gemeinsame Muster zu erkennen, die sich in verschiedenen Systemen wiederholen, auch wenn diese sich in Aufbau und Größe unterscheiden. Ein Beispiel ist die Ähnlichkeit zwischen Transport in Zellen und dem Straßenverkehr.
Mit leuchtenden Lasten und optischen Pinzetten lassen sich die Transporter studieren
Selbstverständlich kommen die Theoretiker des Hahn-Meitner-Instituts nicht ohne den Input voran, den sie von experimentell arbeitenden Physikern und Biologen anderer Forschungseinrichtungen bekommen. Ihnen verdanken sie vor allem die Einsichten in die Grundstrukturen zellulären Transports. Heutzutage können die Experimentatoren mit Hilfe ausgefeilter Verfahren viele Details mikrobiologischer Prozesse sichtbar machen: sie bürden den Transportern leuchtende Lasten auf, die sie dann unter dem Mikroskop beobachten können oder lassen sie eine winzige Kugel tragen, die mit Hilfe einer so genannten optischen Pinzette festgehalten werden kann, und messen so ihre Zugkraft. Experimenten verdankt man unter anderem auch die Kenntnis von Zahlenwerten, die in das theoretische Modell eingesetzt werden müssen, wenn man zu Ergebnissen kommen will, die die Wirklichkeit realistisch beschreiben.
Früher oder später enden alle im Stau
Das mathematische Modell, das (Herr) Andrea Parmeggiani, Thomas Franosch und Erwin Frey am Hahn-Meitner-Institut entwickelt haben, führt auf eine Reihe von Gleichungen, aus denen man die Verteilung der Transporter entlang des Weges bestimmen kann. Es stellt sich heraus, dass sich auf dem Weg ein deutliches Stauende herausbildet, das zwei Bereiche voneinander trennt: einen mit fließendem und einen mit zähflüssigem Verkehr. Von hinten nachkommende Transporter werden im Stau gefangen, sobald sie das Stauende erreicht haben und können dann nur noch langsam im zähen Verkehr mit fließen. Man kann dieses Stauende als Grenze zwischen zwei Phasen betrachten – verschiedenen Formen, in denen dieselbe Substanz vorkommt, ähnlich wie die Grenze zwischen Wasser und Eis. Interessanterweise hängt die Position dieser Grenze nur von den verwendeten Parametern ab und nicht von der Anfangskonfiguration auf der Straße, das heißt, nach einer gewissen Zeit wird immer ein Stau entstehen und das Stauende immer an derselben Stelle sein.
Mit den hier beschriebenen Ergebnissen ist die Forschungsarbeit natürlich noch lange nicht zu Ende. Die Theoretiker werden mit Hilfe verfeinerter Modelle weitere Details des neuen Phänomens untersuchen, die Experimentatoren nach dessen Spuren in den lebenden Zellen suchen. Auch wenn noch viel Arbeit getan werden muss, bevor man sich ein genaues Bild vom Stau in der Zelle und der Rolle, die er spielt machen kann, ist jetzt schon klar, dass das Fenster zu einer ganzen Welt neuer faszinierender Phänomene aufgestoßen worden ist.
Quelle:
A. Parmeggiani, T. Franosch, and E. Frey, Phase Coexistence in Driven One Dimensional Transport, Physical Review Letters 90, 086601 (2003)
Hintergrundartikel:
E. Frey, Physikalische Fragestellungen aus der Zellbiologie, Physik Journal, 2/2001, http://www.pro-physik.de/Phy/pdfs/ISSART11750DE.PDF
Kontakt:
Dr. Paul Piwnicki, Hahn-Meitner-Institut,
Bereich Strukturforschung, Öffentlichkeitsarbeit, piwnicki@hmi.de, 030-8062-3252
Kontakt zu den Autoren:
Dr. Andrea Parmeggiani, Tel: 030-8062-2315, E-Mail: parmeggiani@hmi.de
Dr. Thomas Franosch, Tel: 030-8062-3198, E-Mail: franosch@hmi.de
Prof. Dr. Erwin Frey, Tel: 030-8062-2048, E-Mail: frey@hmi.de
Informationen zur Forschung am Hahn-Meitner-Institut: http://www.hmi.de/bereiche/SF/SF5/arbeitsg/bio_physics/index_en.html
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