Der molekularen Basis von Lernen und Gedächtnis auf der Spur
Max-Planck-Wissenschaftler entwickeln neuartiges Werkzeug, um molekulare Vorgänge in den Synapsen von Nervenzellen sichtbar zu machen
Die molekularen Grundlagen des Lernens und Erinnerns sind ein immer noch weitgehend unverstandenes Rätsel. Nervenzellen leiten nicht nur Informationen untereinander weiter, sondern sie entscheiden auch darüber, was wir uns merken und was wir wieder vergessen. Heute geht man davon aus, dass die dem Gedächtnis zugrunde liegenden Prozesse an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, den so genannten Synapsen, stattfinden. In der April-Ausgabe der Zeitschrift Molecular Biology of the Cell (Mol. Biol. Cell, Vol. 14: 1570-1582) stellen Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie in Tübingen ein neuartiges Testsystem vor, mit dem sie die Bildung von Proteinen in einer lebenden Nervenzelle direkt sichtbar machen. Ihr Ziel ist es, molekulare Veränderungen in einer einzelnen Synapse unter dem Mikroskop beobachten zu können. So ließe sich ergründen, durch welche Vorgänge verschiedene Reize bzw. Signale in der Zelle miteinander verschaltet und auf diese Weise Informationen gespeichert werden.
Bis heute ist ungeklärt, wie wir uns Fakten, Zahlen oder Gesichter merken können. Eine einfache und auch recht wahrscheinliche Erklärung dafür lautet: Wir haben Erinnerungen, weil sich unsere Nervenzellen Dinge merken können. Nervenzellen haben unzählige Verbindungsstellen zu anderen Zellen. Jeder dieser Kontakte – auch Synapsen genannt – kann nicht nur moduliert werden, es können sich auch jederzeit neue Synapsen bilden. Eine typische Nervenzelle sieht daher aus wie ein Baum mit vielen Ästen (Dendriten) und Blättern (Synapsen). Um alle seine Blätter am Leben zu halten, muss der Baum Wasser und Nährstoffe bis in seine entferntesten Äste transportieren. Auch die Nervenzelle verfährt so und transportiert Moleküle bis in die entlegendsten Enden ihrer Dendriten zu den Synapsen. Diese Moleküle sind zum Beispiel spezielle Proteine, aber auch Ribonukleinsäuren (RNAs) – Blaupausen des Genoms für die Herstellung von Proteinen.
Neuere Forschungsergebnisse legen nun nahe, dass die Proteinsynthese nicht nur in der Nähe des Zellkerns, wo die RNA-Blaupausen entstehen, sondern auch in weiter entfernten Abschnitten der Dendriten stattfindet. Wissenschaftler vermuten deshalb heute, dass eine Nervenzelle über die lokale Proteinsynthese in Dendriten das für den Umbau, Abbau oder die Neubildung von Synapsen benötigte „Baumaterial“ genau dort herstellt, wo es schließlich auch eingebaut wird. Eine solche lokale Veränderung der Proteinzusammensetzung in der Nervenzelle wäre eine originelle Möglichkeit, wie diese Zelle „lernen“ und die so gespeicherten Informationen wieder abrufen könnte.
Um das herauszufinden, müsste man die molekularen Vorgänge in einer lebenden Nervenzelle direkt beobachten können. Forschern um Michael Kiebler am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen ist es nun gelungen, eine neuartige Methode zu entwickeln, mit der man die Synthese eines fluoreszierenden „Reporter-Proteins“ direkt sichtbar machen kann. Dazu griffen sie auf ein sehr effizientes System zurück, das Zellen benutzen, um die Eisenkonzentration in ihrem Inneren genauestens zu regulieren. Auf diese Weise werden normalerweise Eisentransport- bzw. Eisenspeicherproteine nur dann in der Zelle hergestellt, wenn sie wirklich gebraucht werden. Setzt man einen solchen „Eisenschalter“ vor eine beliebige Reporter-RNA (Blaupause), die z. B. den Bauplan für das Grüne Fluoreszierende Protein (GFP) enthält, wird dieses Proteins nur in Anwesenheit von Eisen erzeugt. In einem zweiten Schritt fügten die Wissenschaftler der Reporter-RNA an ihr Ende noch ein molekulares Sortiersignal an. Dieses sorgt dafür, dass diese RNA tatsächlich in die Dendriten transportiert wird.
Paolo Macchi und seine Kollegen aus der Arbeitsgruppe um Michael Kiebler haben dann an derart präparierten lebenden Nervenzellen untersucht, ob das Reporter-Protein hergestellt wird, wenn sie in den Zellen die Eisenkonzentration erhöhen. Tatsächlich aktivierte die Anwesenheit von Eisen die Proteinsynthese, die über die grüne Fluoreszenz des Reporterproteins direkt in der Zelle optisch nachweisbar ist. Doch zudem registrierten die Forscher eine deutliche Steigerung der Neusynthese des Proteins, wenn die untersuchten Neuronen gleichzeitig elektrisch aktiv waren. Damit haben die Wissenschaftler einen ersten wichtigen Hinweis darauf gefunden, dass die synaptische Aktivität direkt die lokale Proteinsynthese regulieren könnte. In ihrem Gefolge eintretende molekulare Veränderungen würden dann dazu führen, dass existierende Synapsen in ihrem gesamten Aufbau reorganisiert und beispielsweise stabilisiert werden. Dies könnte eine der molekularen Grundlagen von Lernprozessen darstellen.
Mit diesem neuen molekularen Werkzeug hoffen die Max-Planck-Wissenschaftler, die dendritische Proteinsynthese in einer lebenden Nervenzelle zum ersten Mal sichtbar zu machen. Durch die lokale Zugabe von Agenzien, die die Synapse chemisch aktivieren, wird die Proteinsynthese in Anwesenheit von Eisen eingeschaltet. Auf diese Weise erwarten die Forscher, neu synthetisiertes grün fluoreszierendes Protein ausschließlich an der aktivierten Synapse optisch nachweisen zu können. Ist dies gelungen, sollen die molekularen Vorgänge, die zu einer modifizierten Synapse führen, genauer untersucht werden. Michael Kiebler und seine Arbeitsgruppe versprechen sich davon erste Einblicke in die zugrunde liegenden Mechanismen, die voneinander unabhängige Reize aus der externen Welt miteinander verschalten und so zu einer Ausbildung und Speicherung von assoziativem Gedächtnis führen könnten.
Dr. Michael Kiebler
Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen
Tel.: 07071 – 601-329
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E-Mail: michael.kiebler@tuebingen.mpg.de
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