Von der Chemo- zur Proteintherapie
Max-Planck-Wissenschaftler finden neuen Ansatz, mit dem molekulare Engpässe der Chemotherapie bei Virus-Infektionen und Krebs überwunden werden können
Ein üblicher Weg in der Chemotherapie von Tumoren und Virus-Infektionen sind so genannte Pro-Drugs: Die Patienten erhalten nicht das eigentliche Medikament, sondern eine chemische Vorstufe, die erst im Körper, idealerweise sogar erst in den kranken Zellen selbst, aktiviert wird. Doch leider wird die Wirkung dieser Medikamente häufig gerade durch ihre unzureichende intrazelluläre Umwandlung zu der gewünschten pharmakologisch aktiven Verbindung begrenzt. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Enzyme aus der Klasse der Nukleosid- und Nukleotidkinasen. Wissenschaftler des Max-Planck-Institutes für biophysikalische Chemie in Göttingen und der University of Illinois in Chicago, U.S.A., haben jetzt die Struktur und die katalytischen Eigenschaften eines solchen Enzyms, der Deoxycytidinkinase (dCK), aufgeklärt, das bei der Aktivierung medizinisch relevanter Verbindungen von essentieller Bedeutung ist (Nature Structural Biology 10, 513-519, Juni 2003). Das eröffnet neue Möglichkeiten, maßgeschneiderte Varianten dieses Enzyms zu erzeugen, die die herkömmlichen Pro-Drugs selektiver und effizienter aktivieren können.
In der Chemotherapie von Virusinfektionen und zahlreichen Krebserkrankungen setzt man häufig Wirkstoffe ein, die in ihrer Struktur den physiologischen Bausteinen der Nukleinsäuren ähneln. Bestimmte Enzyme (Polymerasen), die die Nukleinsäuren (DNS) als Träger der genetischen Information in den Virus-infizierten Zellen oder den Krebszellen vervielfältigen, nehmen diese Ersatzbausteine, die so genannten Nukleosid-Analoga (NA), meist gut an. Die Nukleosid-Analoga, je nach Therapieart auch als Virustatika oder Cytostatika bezeichnet, sind im Vergleich zu den natürlichen Nukleinsäure-Bausteinen meist in ihrem Zucker-Anteil chemisch verändert. Bei der Synthese eines neuen DNS-Stranges führt ihr Einbau dann zu einem Kettenabbruch oder zu einer instabilen Struktur und hemmt dadurch die weitere Vermehrung der Viren oder des Tumors.
Damit sie als Medikament von den Zellen aufgenommen werden können, müssen Nukleosid-Analoga den Patienten als Vorläufer-Substanzen, so genannte Pro-Drugs, verabreicht werden. Ihre pharmakologisch aktive Form entsteht dann erst in der Zelle selbst: Mehrere Enzyme, die Nukleosid- und Nukleotidkinasen, sind daran beteiligt. Ihre Aufgabe ist es, schrittweise drei Phosphatreste an diese Pro-Drugs zu hängen (Phosphorylierung). Erst dann werden sie von den Polymerasen als DNS-Bausteine angenommen (Abbildung 1).
Auf diese Weise funktionieren wichtige Virustatika, die z.B. zur Bekämpfung von Herpes-Infektionen oder zur Behandlung von AIDS eingesetzt werden. Andere Pro-Drugs spielen eine wichtige Rolle in der Therapie von Tumor-Erkrankungen und Leukämien. Doch in manchen Fällen erweisen sich diese Substanzen als wenig wirksam. Die Ursachen können vielfältig sein: Weil sich ein toxisches Zwischenprodukt anhäuft, weil die Nukleosid-Analoga nicht ausreichend spezifisch in die DNS der Zielzellen eingebaut werden oder weil die Pro-Drugs nur unzureichend in ihre therapeutisch aktive Form umgewandelt werden.
Den Forschergruppen von Arnon Lavie in Chicago und Manfred Konrad in Göttingen ist es jetzt gemeinsam gelungen, die Struktur der Deoxycytidinkinase (dCK), eines Schlüsselenzyms im Nukleotid-Stoffwechsel des Menschen, mit Hilfe der Protein-Kristallographie aufzuklären. Das Enzym Deoxycytidinkinase überträgt einen Phosphatrest nicht nur auf natürliche DNS-Bausteine in der Zelle, sondern auch auf eine Reihe von medizinisch relevanten Pro-Drugs. Welche Bedeutung dieses Enzyms in der Chemotherapie hat, zeigt sich unter anderem auch in der direkten Korrelation zwischen seiner Aktivität und der Empfindlichkeit von Tumorzellen auf Nukleosid-Analoga. So sind Zellen mit fehlender oder stark verringerter dCK-Aktivität resistent gegen eine Behandlung mit verschiedenen Pro-Drugs. Durch eine verstärkte Expression des Enzyms können die Zellen aber wieder empfindlicher gemacht werden.
Dank der hohen Auflösung (0,16 Nanometer) der Strukturaufklärung gelangen den Wissenschaftlern detaillierte Einblicke in den Aufbau der Deoxycytidinkinase und in die für die Phosphatübertragung kritischen Wechselwirkungen einzelner Aminosäuren des Enzyms mit verschiedenen Pro-Drugs. Die Forscher konnten sichtbar machen, wie verschiedene Medikamente von ihrem Zielprotein erkannt und phosphoryliert werden. Die Strukturen der Verbindungskomplexe zwischen Enzym und Medikament erklären auch, warum verschiedene Pro-Drugs unterschiedlich gut phosphoryliert werden, was schon früher durch Messungen sowohl am gereinigten Enzym als auch in Zellkulturen und sogar in Patienten beobachtet worden war.
Damit bestehen jetzt neue Ansatzpunkte, durch ein gezieltes Design Varianten des Enzyms zu erzeugen, die bisher genutzte Pro-Drugs selektiver und effizienter aktivieren können. Den Wissenschaftlern ist es bereits gelungen, die menschliche Deoxycytidinkinase (dCK) derart zu verändern, dass sie das natürliche Substrat Deoxycytidin 50-fach und ein wichtiges Pro-Drug 4-fach besser phosphoryliert als das natürliche Enzym.
Diese Forschungsergebnisse zeigen beispielhaft, wie die detaillierte Kenntnis der Struktur eines menschlichen Schlüsselenzyms dazu beitragen kann, die teilweise sehr unterschiedlichen Wirkungen von klinisch eingesetzten Pharmaka auf molekularer Ebene zu verstehen. Damit öffnen sich zum einen Wege für die Entwicklung neuer Medikamente, die in den Zellen besser aktiviert werden und eine wesentlich höhere therapeutischen Wirkung entfalten können; zum anderen könnte es auf längere Sicht möglich sein, die Eigenschaften des menschlichen Enzyms durch gezielte Eingriffe in seine Struktur so zu verändern, dass es die schon lange Zeit klinisch eingesetzten Pro-Drugs effizienter umwandelt und dann auch für Gen- oder Protein-therapeutische Strategien zur Behandlung bestimmter Tumore und Leukämien geeignet ist. „Der kombinierte Einsatz von Pro-Drugs und Kinasen, die diese Pro-Drugs effizient aktivieren, könnte sich langfristig zu einem vielversprechenden Weg in der Krebs- und Virusbehandlung entwickeln,“ meint dazu Manfred Konrad, einer der beteiligten Wissenschaftler und Arbeitsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie.
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Dr. Manfred Konrad (ab. 30. Juli 2003)
Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, Göttingen
Tel.: 0551 201 – 1706, Fax.: – 1718
E-Mail: mkonrad@gwdg.de
Dr. Christian Monnerjahn
Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, Magdeburg
Tel.: 039303 71 – 4537
E-Mail: Christian.Monnerjahn@salutas.de
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