Reihenuntersuchung für Moleküle
Das Berliner Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie will tausende Substanzen pro Tag auf ihre biologische Wirkung testen
Noch ist von der „Screening Unit“ nicht viel zu sehen: Ein nüchtern eingerichteter Laborraum mit großen Kühlschränken und allerlei Gerätschaften, die in der Molekularbiologie benötigt werden, etwa Zentrifugen, Pipetten und ein „Thermomixer“. Diese Utensilien sind jedoch nur Nebensache, denn das eigentliche Herzstück des Projekts am Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie in Berlin-Buch ist eine Bibliothek mit Substanzen. Und diese soll von zurzeit 20.000 Molekülen auf ein mehrfaches dieser Zahl erweitert werden. Dr. Jens Peter von Kries, Forscher am FMP, erläutert den Hintergrund.
„Das, was wir machen wollen, ist in der deutschen Forschungsszene ein Novum“, sagt der hochgewachsene Wissenschaftler, „wir wollen mit Hilfe von Robotern Tausende von Substanzen reihenweise auf ihre biologische Wirkung hin testen“. 2000 bis 4000 Substanzen können bereits an einem Tag getestet werden. Von „Reihenuntersuchung“ (englisch: screening) leitet sich auch der Begriff „Screening Unit“ ab. In der Pharmaindustrie ist das schon längst üblich. Als Konkurrenz zur Industrie wollen sich die beteiligten Forscher vom FMP und vom benachbarten Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) aber nicht sehen. Im Gegenteil: „Wir suchen die Zusammenarbeit mit der Industrie und Biotechnologie“, betont Prof. Hartmut Oschkinat. Er leitet am FMP die NMR-unterstützte Strukturforschung. Seine Abteilung untersucht die räumliche Struktur von Proteinen mithilfe der Kernspinresonanzspektroskopie (auch NMR-Spektroskopie genannt).
Die jeweiligen Fragestellungen beim Screening unterscheiden sich in Industrie und akademischer Forschung zum Teil erheblich voneinander. „Wir fahnden nach Wirkstoffen, die das Verständnis komplexer, biologischer Regulationsvorgänge ermöglichen“, sagt von Kries. Da diese kleinen Moleküle sehr spezifisch als molekulare Schalter einsetzbar sind, werden solche Substanzen selbst dann für die akademische Forschung interessant, wenn sie „nur“ molekulare Mechanismen klären und nicht zu Medikamenten weiterentwickelt werden können. Wenn von Kries seinen größten Wunsch äußert, dann versteht man auch, wieso die Kooperation mit Unternehmen gesucht wird. Die Betreiber der Screening Unit erhoffen sich nämlich von der Industrie die Erweiterung der Substanzbibliotheken, die für die erfolgreiche Arbeit im Labor benötigt wird. Oftmals verfügen forschende Arzneimittelhersteller über Bibliotheken mit Millionen von Substanzen.
Wieso aber sollte ein Pharmaunternehmen einen solch wertvollen Schatz hergeben oder teilen? „Auf dem Campus in Berlin-Buch könnten wir Projekte bearbeiten, die für Pharmafirmen wirtschaftlich zu wenig kalkulierbar sind“, sagt von Kries. Unternehmen schreckten vor so genannten High-Risk-Projekten zurück. Das sind etwa Testreihen mit Substanzen, von denen man überhaupt nicht weiß, ob sie je in ein Arzneimittel umgesetzt werden können, die aber zugleich – im Falle eines Erfolgs – enorm vielversprechend sind.
Beispiel Alzheimer: Es gibt Erkenntnisse, wonach bestimmte Eiweißstoffe die Ursache dafür sind, dass im Gehirn schädliche Ablagerungen („amyloide Plaques“) gebildet werden. Und es gibt Hinweise auf Moleküle, die eben jene Eiweißstoffe daran hindern, die Plaques zu bilden.
Beispiel Immunsuppressiva: Solche Medikamente müssen Patienten nehmen, denen ein fremdes Organ eingepflanzt wurde. Die Wirkstoffe verhindern, dass der Körper das Spenderorgan abstößt. Doch die Unterdrückung des Abwehrsystems, also die Immunsuppression, hat unerwünschte Nebenwirkungen. Mithilfe von maßgeschneiderten Proteinen könnte es gelingen, die T-Zellen zu blockieren und überschießende Immunreaktionen zu verhindern.
Der Direktor des Forschungsinstituts für Molekulare Pharmakologie, Prof. Walter Rosenthal, betont: „Die Screening Unit wird Projekte bearbeiten, bei denen die Kompetenz auf dem Campus klar ausgeprägt ist.“ Das heißt, man will sich um Proteine und ihre Funktionen kümmern; darum, wie Zellen untereinander Informationen austauschen. Zur Kompetenz gehört auch, dass auf dem Campus eine große Zahl von Forschern interdisziplinär zusammenarbeitet. Chemiker, Biologen, Pharmakologen und auch Physiker bündeln ihre Fähigkeiten.
Jens Peter von Kries hat selber bereits in einem Wirtschaftsunternehmen „gescreent“. Daher fällt es ihm leicht, an einem fiktiven Beispiel zu schildern, wie der Prozess vonstatten geht. Firma A kommt beispielsweise und bietet eine Substanzbibliothek an. Dadurch erhalten die Forscher Zugriff auf die Formeln und auf die tatsächlichen Substanzen in der Bibliothek. Im Gegenzug will Firma A wissen, ob darunter ein Stoff ist, der etwa bestimmte Botenstoffe blockiert und damit Alzheimer-Plaques verhindert. Per Kurierpost kommen nun haufenweise Mikrotiterplatten an das FMP. Das sind rechteckige Plastikbehälter, etwas kleiner als eine Videokassette, die Vertiefungen aufweisen; sie sehen aus wie Miniatur-Eierkartons. In den Vertiefungen befinden sich die Substanzen aus der Bibliothek, abgezählt und genau definiert.
An der Screening Unit würden nun weitere Mikrotiterplatten vorbereitet, in denen sich überall das zu untersuchende Protein befindet. Dieses Eiweißmolekül würde so präpariert, dass Reaktionen sichtbar werden – zum Beispiel durch eine Farbänderung. Mittels spezieller Pipetten ist es nun möglich, winzigste, genau bemessene Tröpfchen aus der Substanzbibliothek in die Vertiefungen mit dem Zielprotein zu träufeln. In den meisten Fällen passiert dann – nichts. Aber irgendwo in einer der Vertiefungen ändert sich vielleicht die Farbe. Und das ist dann der Stoff, der auf das Zielprotein wirkt. Diese Substanz, deren Formel bekannt ist, kann dann von spezialisierten Synthesechemikern verändert werden, um ihre Wirkung zu verstärken. Im Fachjargon heißt das „Drug Modeling“ und „Leitstrukturoptimierung“. Die Kunst ist es hierbei, nicht blindlings Substanzen zu testen, sondern – ausgerüstet mit dem nötigen Grundlagenwissen – gezielt den molekularen Hebel anzusetzen.
Bleibt die Frage, ob Pharmaunternehmenbereit wären, sich zumindest von einem Teil ihrer kostbaren Bibliotheken zu trennen. Jens Peter von Kries: „Ohne die Hilfe und ohne ein Umdenken der Pharmaindustrie geht es nicht.“ Er ist jedoch zuversichtlich, denn er hat ein Beispiel aus den USA vor Augen. Dort, in Harvard, gibt es eine Screening Unit, die bereits die Arbeit aufgenommen hat. Auch auf der Basis von geschenkten Bibliotheken. Das FMP arbeitet mit den Kollegen aus Harvard zusammen. Die Voraussetzungen sind also gegeben, um vom Campus Berlin-Buch aus ein Netzwerk aufzubauen zwischen Chemikern, Biologen und Drug-Modeling-Experten. Der Service der Screening Unit würde dabei nicht nur der Industrie angeboten, sondern auch anderen Forschungsinstituten oder Hochschulen. Das ist sowohl aus wissenschaftlicher Sicht als auch aus wirtschaftlicher Sicht viel versprechend, denn aus biologisch wirksamen Substanzen können Medikamente entwickelt werden und damit (mit Screening und vor allem mit Treffern) lässt sich Geld verdienen. Wichtig dabei ist, dass man schnell ist. Geht es nach von Kries, dann könnte er sofort loslegen.
Ansprechpartner: Dr. Jens Peter von Kries, 030 / 9 47 93-286 / -356; Mail: kries@fmp-berlin.de
Das FMP betreibt Grundlagenforschung auf dem Gebiet der molekularen Pharmakologie. Die einzige außeruniversitäre pharmakologische Einrichtung Deutschlands beschäftigt sich vor allem mit der Identifizierung und Nutzbarmachung potenzieller Zielstrukturen für Pharmaka. Ihr Ziel ist es, neue Konzepte für eine pharmakologische Beeinflussung des Organismus zu entwickeln. Die interdisziplinär angelegte Forschung basiert auf der Zusammenarbeit und räumlichen Zusammenführung von Chemikern, Medizinern, Molekulargenetikern und Strukturbiologen. Das Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie gehört zum Forschungsverbund Berlin e.V. und ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.
Der Forschungsverbund Berlin e.V. ist Träger von acht natur-, lebens- und umweltwissenschaftlichen Forschungsinstituten in Berlin, die alle wissenschaftlich eigenständig sind, aber im Rahmen einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit gemeinsame Interessen wahrnehmen und eine gemeinsame Verwaltung haben.
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