Dem Gedächtnis auf der Spur
Max-Planck-Neurowissenschaftler haben Proteine in Nervenzellen entdeckt, die sowohl Sender als auch Empfänger sein können
Unser Gehirn ist plastisch – es kann sich fortlaufend verändern und an die Stärke von Reizen anpassen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie haben jetzt eine neue Perspektive eröffnet, diese Plastizität des Gehirns zu verstehen. Sie haben erstmals entdeckt, dass eine bestimmte Kombination aus Liganden- und Rezeptorproteinen, die eine wichtige Rolle bei der Plastizität der Verbindungen zwischen Nervenzellen spielt, in ihrer Signalrichtung auch umgekehrt funktionieren kann. Proteine aus der Familie der Ephrine, denen man bisher eine eher passive Rolle als Signalgeber zugerechnet hatte, funktionieren in bestimmten Nervenzellen als Rezeptoren, also Empfänger. Diese neuen Erkenntnisse lassen vermuten, dass auch andere Proteine an den Synapsen von Nervenzellen über ein breiteres Funktionsspektrum verfügen könnten, als bisher angenommen (Nature Neuroscience, Online-Vorauspublikation, 14. Dezember 2003).
Ein moderner Computer mit einer Taktfrequenz von 1 Gigahertz ist dem menschlichen Gehirn mit nur 1 Kilohertz Taktfrequenz an Schnelligkeit haushoch überlegen. Dennoch ist unser Gehirn mit seiner komplexen Leistungsfähigkeit unschlagbar. Im Gegensatz zum Computer beruht dies nicht auf starren Schaltkreisen und Verbindungen eines elektronischen Geräts. In der menschlichen Schaltzentrale werden die Verbindungen zwischen Nervenzellen ständig verändert, neu geschaffen oder auch abgebaut. Auch die Stärke ihrer Verbindungen über die so genannten Synapsen kann sich ständig verändern und an die Stärke der Reize anpassen. Diese Fähigkeit der Veränderlichkeit nennt man Plastizität. Sie ist einer der Forschungsschwerpunkte am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Erforschung der chemischen Signale, die bei der Entwicklung des Nervensystems eine Rolle spielen – die Ephrine und Eph-Rezeptoren. Ilona Grunwald, Abteilung Molekulare Neurobiologie (Direktor: Rüdiger Klein) und Martin Korte, Abteilung Zelluläre und Systemneurobiologie (Direktor: Tobias Bonhoeffer) haben durch ihr gemeinsames Forschungsprojekt wesentlich neue Erkenntnisse zur synaptischen Plastizität beigetragen. Unterstützt wurden sie dabei von Giselind Adelmann und Michael Frotscher von der Universität Freiburg und anderen Forscher aus dem In- und Ausland.
Die Plastizität des Gehirns ist eine entscheidende Voraussetzung für Lernen und Gedächtnis. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Hippokampus, ein Teil des Großhirns, das durch seine gerollte Form an ein Seepferdchen erinnert. In ihm werden neue Informationen kurzfristig gespeichert und auf die anderen Gehirnbereiche zur Langzeitspeicherung verteilt. Patienten ohne Hippokampus leben in der Vergangenheit, sie haben die Fähigkeit der kurzfristigen Speicherung und Verteilung von Information verloren. Seine Eigenschaften verdankt der Hippokampus unter anderem der hohen Plastizität seiner Nervenzellen. Diese haben die Martinsrieder Wissenschaftler an Gewebeschnitten von Maushirnen untersucht und dabei die Kommunikation zwischen Nervenzellen verschiedener Regionen des Hippokampus aufgezeichnet (CA3-CA1-Region).
Bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle auf die andere sind Proteine (Liganden und Rezeptoren) an der Synapse beteiligt, die sich an der Membran der ersten Zelle (präsynaptisch) mit denen der zweiten (postsynaptisch) ergänzen und auf diese Weise eine Weiterleitung von Informationen ermöglichen. Ein solcher Kommunikationsapparat besteht unter anderem aus Ephrin-Liganden und Eph-Rezeptoren. Bei diesen Molekülen handelt es sich um zwei große Proteinfamilien, die in Unterklassen A und B unterteilt werden. EphrinA-Liganden interagieren nur mit EphA-Rezeptoren, während EphrinB-Liganden neben EphB-Rezeptoren auch mit EphA4-Rezeptoren wechselwirken. Bisher war bekannt, dass präsynaptische Ephrine an postsynaptische Eph-Rezeptoren binden und dadurch weitere intrazelluläre Signale auslösen, wie zum Beispiel den verstärkten Kalziumeinstrom in die Nervenzelle. Jetzt konnten Grunwald und Korte mit ihren Kollegen durch elektrophysiologische Messungen und elektronenmikroskopische Methoden nachweisen, dass Ephrine in bestimmten Nervenzellen des Hippokampus viel häufiger postsynaptisch als präsynaptisch vorkommen (s. Abbildung).
Im nächsten Schritt haben die Wissenschaftler untersucht, ob postsynaptische Ephrine an der Plastizität von Synapsen beteiligt sind. Synaptische Plastizität im Hippokampus ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass bei einer hochfrequenten Reizung einer Synapse ihre Übertragungseigenschaften verändert werden, so dass der Reiz verstärkt an der postsynaptischen Seite ankommt. Dieser Vorgang, die so genannte Langzeitpotenzierung (LTP=long-term potentiation), wird durch synaptische Moleküle wie die oben erwähnten Ephrine und Eph-Rezeptoren bewirkt. Neben der Verstärkung kann jedoch auch eine Abschwächung oder Hemmung der synaptischen Effektivität, eine Langzeitdepression (LTD= long-term depression), auftreten. Doch durch welche Signalwege genau die Langzeitpotenzierung oder Langzeitdepression aufrechterhalten wird, ist noch weitgehend unklar. Jetzt konnten die Max-Planck-Wissenschaftler nun nachweisen, dass zwei EphrinB-Liganden in der postsynaptischen Membran für die Ausbildung von LTP und LTD notwendig sind.
Im letzten Schritt ihrer Studie wollten die Neurobiologen die Rolle des zu den beiden Ephrinen gehörenden EphA4-Rezeptor untersuchen. Sie stellten fest, dass der EphA4-Rezeptor zwar an der Ausbildung von Langzeitpotenzierung durch die Ephrine beteiligt ist, die aktive Signalgebung jedoch von den Ephrinen ausgehen muss, da auch mit einem seines „Signalisierungsteils“ beraubten EphA4 Rezeptor die Verstärkung möglich war. In diesem speziellen Fall sind die Rollen also vertauscht: Der EphA4-Rezeptor verhält sich der wie ein Signalgeber, während der EphrinB-Ligand die Signalübermittlung übernimmt.
Durch die Entdeckung, dass das EphrinB-Eph-Rezeptor-System in verschiedenen Hippokampus-Regionen in entgegengesetzter Weise operiert, haben Grunwald und Korte mit ihren Kollegen jetzt neue Möglichkeiten aufgezeigt, wie die synaptische Plastizität im Gehirn zustande kommen könnte. Weitere Untersuchungen werden zeigen, wie dies im Detail erfolgt. Die Tatsache, dass ein Protein einmal als Signalgeber und einmal als Signalübermittler fungieren kann, lässt jedenfalls vermuten, dass auch andere Synapsen-Proteine auf diese Weise Ihre Funktionalität erweitern könnten.
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