Mit Illusionen auf dem Weg ins "Unbewusste"

Auf einem Monitor leuchtet kurz ein Lichtpunkt auf, gefolgt von einem balkenförmigen Lichtreiz (s. Abb., a - Zeit). Diese einfache Anordnung wird jedoch anders wahrgenommen: Der Balken scheint sich vom Ort des Lichtpunktes auszudehnen und eine Bewegung vorzutäuschen (s. Abb., b). Auf die Gehirnoberfläche geblickt, werden unterschiedliche Aktivitätszustände farblich dargestellt (s. Abb., c). Jedes Bild ist eine Momentaufnahme von 10 Millisekunden Dauer, es zeigt jeweils einen etwa 7x3 mm großen Bereich, der Millionen von Nervenzellen umfasst. Die Farben kennzeichnen den momentanen Aktivitätszustand: Dunkelrote Bereiche beinhalten Nervenzellen mit überschwelliger Aktivität, - die innerhalb des Areals und an höhere Hirnareale weitergleitet wird -, während sich die von blau nach rot ansteigend gefärbten Gehirnbereiche in unterschwelligen Aktivitätszuständen befinden. Der überschwellige, dunkelrote Bereich entwickelt sich in die gleiche Richtung wie unsere Wahrnehmung. Es entsteht ein neuronales Korrelat der Illusion (s. Abb. b).

Gehirnaktivität in hoher raum-zeitlicher Auflösung

Noch bevor wir etwas wahrnehmen, laufen unbewusst komplexe Hirnprozesse ab: In Sekundenbruchteilen breiten sich Aktivitätswellen in Nervenzell-Netzwerken aus, wird die Außenwelt im Gehirn abgebildet – doch für uns bleibt zunächst vieles unsichtbar. Junior-Professor Dr. Dirk Jancke (Kognitive Neurobiologie, Lehrstuhl für Allgemeine Zoologie und Neurobiologie der RUB) hat jetzt Unsichtbares sichtbar gemacht. Mit einem neuen optischen Verfahren zur Messung von Gehirnaktivität, entwickelt im Labor von Prof. Dr. Amiram Grinvald (Weizmann Institute of Science, Israel), fand er erstmals ein neurophysiologisches Korrelat einer visuellen Bewegungsillusion in „Echtzeit“. Während komplexe Wahrnehmungsleistungen meist höheren Hirnarealen zugeschrieben werden, machte Jancke diese Entdeckungen bereits in frühen, sog. primären Arealen der Großhirnrinde. Über die Ergebnisse berichtet das Wissenschaftsmagazin NATURE in seiner Ausgabe vom 25. März 2004.

„Line-Motion Illusion“: Unbewegtes bewegt sich

Für seine Untersuchungen wählte Jancke das Phänomen der visuellen Illusionen – gleich einer optischen Sinnestäuschung, wenn die wahrgenommene nicht der physikalisch präsenten Welt entspricht. Illusionen scheinen sich besonders für Fragestellungen in der Hirnforschung zu eignen, bei denen es um Wahrnehmungen, Empfindungen, bis hin zum Bewusstsein geht. Werden zum Beispiel auf einem Monitor kurzzeitig ein Lichtpunkt und wenig später ein Lichtbalken dargestellt, dann nehmen wir den Lichtbalken nicht als solchen wahr: Der Balken scheint sich ausgehend vom Ort des zuvor gesehenen Lichtpunktes sukzessiv bis zur vollen Balkenlänge auszudehnen – man spricht von der „Line-Motion Illusion“. Von den in Wirklichkeit unbewegten Objekten wird im Gehirn die Illusion von Bewegung erzeugt. Ähnlich wie beim Betrachten eines Kinofilms führt hier die Abfolge statischer Bilder zur Wahrnehmung kontinuierlicher Bewegung.

„Optical Imaging“ – neuronale Aktivität in Echtzeit

Will man die zugrundeliegenden Verarbeitungsmechanismen des Gehirns entschlüsseln, braucht man eine Messmethode, die möglichst große Gehirnbereiche mit präziser örtlicher und zeitlicher Auflösung untersucht. Jancke nutzt dafür eine von Prof. Amiram Grinvald am Weizmann Institut (Israel) entwickelte Methode, bei der ein fluoreszenter Farbstoff in die Membranen von Hirnzellen eingelagert wird. Unter rotem Licht bestimmter Wellenlänge „leuchten“ diese Nervenzellen umso stärker auf, je aktiver sie gerade sind, weil fluoreszentes Licht emittiert wird. Die so gewonnenen Signale registriert ein hochempfindliches Kamerasystem. Daraus entsteht dann mit Hilfe von speziellen computergestützten Rechenoperationen ein genaues Bild der momentanen Hirnaktivität. Das Besondere: Jancke erfasst auch unterschwellige Aktivität in den einzelnen Nervenzellen und untersucht damit ihre Kommunikation über ein weitverzweigtes Netzwerk hinweg.

Bewegter Balken im Gehirn

Treffen die Signale von Lichtpunkt und Lichtbalken auf die Netzhaut, dann werden sie dort getrennt registriert und an nachfolgende Gehirnstrukturen weitergeleitet. Schon auf der ersten kortikalen Verarbeitungsebene, den primären visuellen Arealen der Großhirnrinde, stellte Jancke am Weizmann Institut unerwartet weitreichende Verarbeitungsprozesse fest. Der Lichtpunkt löst in diesen frühen Gehirnstrukturen unterschwellige und weitreichende Erregungswellen aus. Was wir davon wahrnehmen, ist allerdings lediglich „die Spitze des Wellenkammes“. Nur diese lokale Information über den Ort des Lichtpunktes wird an andere Gehirnareale weitergeleitet, während der Großteil unterschwelliger Aktivitätsbereiche unserer Wahrnehmung zunächst verborgen bleibt. Erst ein nachfolgender Reiz, wie der Lichtbalken bei der „Line-Motion Illusion“, hebt die sich ausbreitende unterschwellige Aktivitätswelle auf ein höheres, dann wahrnehmbares Niveau: Der Balken „wächst vor unseren Augen“, das Gehirn täuscht uns aus zwei unbewegten Objekten Bewegung vor. Unsere Wahrnehmung „surft entlang“ einer nun überschwelligen Aktivitätswelle.

Unbewusst vorbereitet sein

Unser Gehirn ist nicht deshalb so komplex, damit es uns fortwährend täuschen kann, sondern damit wir uns in einer sich stetig bewegenden und verändernden Umwelt besser zurecht finden können. Auf plötzlich erscheinende Objekte, wie ein heranrasendes Auto, werden wir vermutlich durch unterschwellig weit vorauseilende Gehirnaktivitäten intern „vorbereitet“, um Verarbeitungszeit zu sparen und schnell reagieren zu können. Darüber hinaus können raum-zeitliche Beziehungen zwischen und innerhalb von Objekten durch weitreichende unterschwellige Gehirnaktivität integriert und nach Bedarf weiterverarbeitet werden um ein ganzheitliches Bild von der Welt zu vermitteln: So nehmen wir ein Blatt – umgeben von vielen anderen Blättern – einem Baum zugehörig wahr, auch wenn es im Wind ständig seine Position verändert oder zeitweise von anderen Blättern verdeckt wird, – für uns eine leichte Aufgabe, mit der technische Systeme große Schwierigkeiten haben können.

Manche Weichen werden unbewusst gestellt…

„Quasi-automatische“ Gehirnprozesse verschaffen uns stabile Bildwahrnehmungen und erleichtern uns, visuelle Bewegung wahrzunehmen. Die vorliegende Studie zeigt einen möglichen Basismechanismus. Daneben laufen weitere Verarbeitungsprozesse ab: So kann die „Line-Motion-Illusion“ auch durch gezielt gesteuerte Aufmerksamkeit erzeugt werden, wenn wir den Blick willkürlich auf einen bestimmten Ort im Raum richten. Es überrascht jedoch das Ausmaß an Vorverarbeitung in einem primären Hirnareal. Dies lässt darauf schließen, dass an nachfolgende, höhere Hirnregionen bereits entscheidend modifizierte Informationen weitergegeben werden. So werden manche Weichen möglicherweise sehr früh und nicht willentlich gestellt.

Die Förderer

Die Studie wurde durch die Minerva Stiftung, die Marie Curie Stiftung, durch das Grodetsky Center, die Goldsmith Stiftung sowie die Körber Stiftung unterstützt.

Weitere Informationen

Dr. Dirk Jancke
Junior-Professor für kognitive Neurobiologie
Tel: 0234/32-24369, Fax: 0234/ 32-14185
E-Mail: jancke@neurobiologie.ruhr-uni-bochum.de

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