Eine Bindung ist nicht genug – wie Leukozyten an Blutgefäße binden
Max-Planck-Forscher haben herausgefunden, wie kurzlebige Bindungen dazu beitragen, dass Leukozyten die Blutbahn verlassen
Weiße Blutkörperchen (Leukozyten) zirkulieren mit dem Blut durch den ganzen Körper und verlassen die Blutbahn nur dort, wo sie für die Immunabwehr benötigt werden, wie zum Beispiel in der Nähe von Entzündungsherden. Dazu „rollen“ die Leukozyten an den Wänden der Blutgefäße entlang, um sie systematisch nach Stopsignalen abzusuchen. Der gleiche Mechanismus wird auch von Stamm- und Krebszellen benutzt, wenn sie sich im Körper ausbreiten. Zusammen mit Kollegen vom Weizmann-Institut in Israel ist es jetzt Ulrich Schwarz vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung gelungen, mit Hilfe von Flusskammer-Experimenten und Computersimulationen zu beschreiben, wie die „rollende Adhäsion“ der Leukozyten im Detail eingeleitet wird. Bei niedrigen Durchflussraten beobachteten die Forscher nur kurzlebige Einzelbindungen zwischen Leukozyten und Umgebung, während sie oberhalb einer kritischen Durchflussrate die Bildung von Mehrfachbindungen mit schneller Rückbindungsrate fanden, die zu einer dramatischen Stabilisierung der rollenden Adhäsion führt. Dieser Mechanismus trägt dazu bei, dass die Adhäsion von Leukozyten außerhalb des Blutstroms unterdrückt und nur in den Blutgefäßen eingeleitet wird (PNAS, Early Edition, 20. April 2004).
Weiße Blutkörperchen (Leukozyten) sind die „Wächter“ des Immunsystems und für die Abwehr von körperfremden Substanzen verantwortlich. In jeder Minute dringen in unserem Körper Hunderte Millionen von weißen Blutkörperchen aus den Blutgefäßen in das umgebende Gewebe, um dieses nach Verletzungen und Entzündungen abzusuchen. Die Logistik dieser Transportströme wird durch ein kompliziertes „Postleitzahlensystem“ gesteuert, das dafür sorgt, dass die richtigen Unterarten von weißen Blutkörperchen die Blutbahn genau am richtigen Ort verlassen. Dieses Postleitzahlensystem beruht auf einer Vielzahl von Botenstoffen und Adhäsionsmolekülen, die sich komplementär sowohl auf den Leukozyten als auch an den Wänden der Blutgefäße befinden. Dieses System kann man mit Verkehrspolizisten vergleichen, die am Straßenrand stehend bestimmte Signale geben, so dass Feuerwehr, Krankenwagen oder Abschleppwagen je nach Bedarf aus dem Verkehr ausscheren, während dieser ganz normal weitergeht. Das gleiche System wird auch von Stammzellen verwendet, die aus dem Knochenmark über die Blutbahn in das Gewebe gelangen.
Versagt das Postleitzahlensystem, führt das zu Krankheiten wie der Leukozyten-Adhäsions-Defizienz, bei der es weißen Blutkörperchen wegen eines Defekt in einem bestimmten Adhäsionsmolekül nicht mehr gelingt, die Blutbahn zu verlassen. Bei betroffenen Patienten bleiben offene Wunden ohne weiße Blutkörperchen, was zu erhöhter Anfälligkeit gegenüber Infektionen führt. Das Postleitzahlensystem der weißen Blutkörperchen wird aber auch von metastasierenden Krebszellen verwendet, die sich auf diese Weise über die Blutbahn im ganzen Körper ausbreiten können.
Beim Verlassen der Blutbahn stehen die weißen Blutkörperchen vor einem offensichtlichen Problem: Selbst wenn an den Wänden der Blutgefäße die richtigen Informationen für den Bedarf an weißen Blutkörperchen vorhanden sind, ist es für die Leukozyten schwierig, diese wahrzunehmen, da sowohl sie selbst als auch eventuell ausgeschüttete Botenstoffe sehr schnell im Blutstrom davongetragen werden. Im Prinzip könnten starke Adhäsionsmoleküle die weißen Blutkörperchen – wie ein starker Magnet – aus dem Blutstrom fischen, aber dies würde nicht nur zu einer starken Beeinträchtigung des Blutstroms selbst führen, sondern auch dazu, dass die Zellen nur jene Signale wahrnehmen, die genau an der Adhäsionsstelle liegen.
Hier hat die Natur eine trickreiche Lösung entwickelt, nämlich die so genannte „rollende Adhäsion“: Durch die Verwendung von schwachen Adhäsionsmolekülen kommt es nur zur kurzzeitigen Bindung der weißen Blutkörperchen an die Wände der Blutgefäße. Da der Blutstrom dabei kontinuierlich an den Leukozyten zieht, entstehen neue Kontakte nach der Aufbrechen der kurzlebigen Bindungen immer nur stromabwärts. Auf diese Weise beginnen die Zellen, an den Wänden der Blutgefäße zu rollen, ähnlich wie Kiesel in einem Flussbett. Die rollende Adhäsion erlaubt es den weißen Blutkörperchen, die Wände der Blutgefäße auf Signale abzusuchen, ohne dabei den Blutstrom selbst zu sehr zu stören. Sind solche Signale tatsächlich vorhanden, werden die starken Adhäsionsmoleküle in den Blutzellen aktiviert: Die rollende Adhäsion kommt zu ihrem Ende und die weißen Blutkörperchen quetschen sich durch die Zellen der Blutgefäße in das umliegende Gewebe.
Die schwachen bzw. die starken Bindungen der rollenden Adhäsion beruhen auf den Adhäsionsmolekülen der Selektin- bzw. der Integrin-Familie. Der erste Schritt in der rollenden Adhäsion wird vor allem durch die L-Selektine vermittelt, die sich auf den weißen Blutkörperchen befinden und die an bestimmte Zuckermoleküle auf den Wänden der Blutgefäße binden. Schon seit langem untersuchen Immunologen und Biophysiker, auf welche Weise die L-Selektine für ihre Aufgabe optimiert sind.
Dr. Ulrich Schwarz, Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe zur Modellierung von Zelladhäsion am Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, und Prof. Ronen Alon von der Abteilung für Immunologie am Weizmann-Institut, Israel, konnten jetzt nachweisen, dass ein entscheidender Aspekt der rollenden Adhäsion von weißen Blutkörperchen über die schnelle Stabilisierung von Mehrfachbindungen vermittelt wird.
In einem ersten Schritt hatten die Forscher den Rollprozess mit einer im Vergleich zu früheren Experimenten deutlich erhöhten Zeitauflösung beobachtet. Zu diesem Zwecke wurden die weißen Blutkörperchen durch eine Flusskammer – ein „künstliches Blutgefäß“ – gespült, deren untere Seite mit Liganden für L-Selektine funktionalisiert war. Dabei kam es genauso wie in echten Blutgefäßen zur rollenden Adhäsion, die mit einer extrem schnellen Videokamera aufgenommen und quantitativ analysiert wurde. Es stellte sich heraus, dass bei langsamem Durchfluss sehr kurzlebige Bindungsereignisse auftreten (Dissoziationsrate: 250 Hz), die man in früheren Experimenten wegen der ungenügenden Zeitauflösung übersehen hatte.
„Tatsächlich handelt es sich hier um die bisher kurzlebigsten molekularen Bindungen, über die bisher in der biochemischen Literatur berichtet wurde,“ erläutert Ulrich Schwarz. Darüber hinaus stellten die Wissenschaftler fest, dass bei einem erhöhten Durchfluss die Lebenszeit der Bindungen plötzlich um den Faktor 14 anstieg. Diese wesentlich längere Verweildauer ist schwer zu verstehen, da eine erhöhte Flussrate ja eigentlich zu einer stärkeren mechanischen Belastung der Bindungen und damit zu einer Verkürzung ihrer Lebenszeit führen müsste. Durch systematische Veränderung der Viskosität des Mediums konnten die Wissenschaftler jedoch zeigen, dass dieser Effekt nicht mit der erhöhten mechanischen Belastung, sondern mit dem verbesserten Transport bei höheren Flussraten zu tun hat. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass die rollende Adhäsion durch die Bildung von Mehrfachbindungen stabilisiert wird (Journal of Cell Biology, 10. November 2003).
In einem zweiten Schritt haben Schwarz und Alon mit Hilfe von theoretischen Berechnungen und Computersimulationen nachgewiesen, dass sich hierbei wahrscheinlich zwei L-Selektin-Bindungen bilden, die durch eine ungewöhnlich schnelle Rückbindung stabilisiert werden (Rückbindungsrate: 104 Hz). Ihre Argumentation basiert unter anderem auf Flusskammer-Experimenten mit weißen Blutkörperchen, die eine bestimmten Variante von L-Selektinen besitzen, die nicht mehr am inneren Gerüst der Zellen (Zytoskelett) festgemacht sind. In diesem Fall beobachtet man eine deutliche Destabilisierung der rollenden Adhäsion, die vermutlich daher rührt, dass die Rückbindung aufgrund einer erhöhten Mobilität der veränderten L-Selektine gestört ist. Dies erlaubt eine Abschätzung der Rückbindungrate, die gut mit unabhängigen Abschätzungen aus den Flusskammer-Experimenten mit den normalen L-Selektinen übereinstimmt.
Ein Hauptergebnis dieser Arbeiten ist also eine neue Erklärung, warum die rollende Adhäsion erst oberhalb einer bestimmten Durchflussrate einsetzt. Dieser Mechanismus dürfte in unserem Körper sehr wichtig sein, um zu verhindern, dass Leukozyten außerhalb des Blutstroms adhärieren. Tatsächlich wird ihre Adhäsion im wesentlichen nur in den Blutgefäßen, also bei ausreichender Durchflussrate benötigt. Obwohl die Modellierung von Schwarz und Alon noch nicht die gesamte Komplexität des Vorgangs erfasst, beschreibt und erklärt sie doch einen bisher unbekannten und sehr wesentlichen Schritt in der rollenden Adhäsion – die anfängliche Stabilisierung durch Doppelbindungen. Damit haben die Wissenschaftler neue Möglichkeiten aufgezeigt, wie man einen für das Immunsystem sehr wichtigen Prozess in Zukunft besser kontrollieren kann.
Originalveröffentlichung:
U. S. Schwarz and R. Alon
L-selectin mediated leukocyte tethering in shear flow is controled by multiple contacts and cytoskeletal anchorage facilitating fast rebinding events
Proc. Natl. Acad. Sci. U. S. A. , 10.1073/pnas.0305822101, Early Edition, April 20, 2004
O. Dwir, A. Solomon, S. Mangan, G. S. Kansas, U. S. Schwarz and R. Alon
Avidity enhancement of L-selectin bonds by flow: shear-promoted rotation of leukocytes turn labile bonds into functional tethers
J. Cell. Biol. 163: 649-59, November 10, 2003
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Dr. Ulrich Schwarz
Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Potsdam
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