Erfahrung verbindet – Verschaltungen zwischen Nervenzellen durch gemeinsame Erfahrung
Heidelberger Max-Planck-Wissenschaftler haben mit bisher unerreichter Genauigkeit beobachtet, wie Verschaltungen zwischen Nervenzellen durch gemeinsame Erfahrung entstehen
Wie lernt das Gehirne, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, ist eine der großen Fragen in der heutigen Hirnforschung. Bereits vor einigen Jahrzehnten wurde klar, dass veränderte Erfahrungen in der individuellen Entwicklung, wie zum Beispiel durch das frühkindliche Schielen oder durch Verletzungen nach einem Schlaganfall, zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führen. In einer in „Science“ publizierten Studie ist es Carl Petersen und seinen Kollegen Michael Brecht, Thomas Hahn und Bert Sakmann am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg gelungen, die zellulären Mechanismen solcher erfahrungsbedingter Veränderungen im sich entwickelnden Gehirn erstmals mit bisher nicht gekannter Genauigkeit aufzuklären (Science, 30. April 2004).
Die Wissenschaftler hatten speziell jenen Teil der Großhirnrinde (Kortex) von Ratten untersucht, der die Empfindungen von den für die Tiere sehr wichtigen Tasthaaren an der Schnauze verarbeitet. Dieser Barrel Cortex (BC) genannte Hirnteil von Nagetieren ist ein wichtiges Modellsystem in der Neurobiologie. Das Besondere am Barrel Cortex ist, dass man mit geeigneten Gewebefärbungen tönnchenförmige Strukturen (so genannte Barrels) darstellen kann. Diese Barrels zeigen die gleiche Anordnung wie die Tasthaare auf der Nase, und jeder der Barrels erhält vornehmlich Informationen von dem ihm entsprechenden Barthaar (vgl. Abb. 1).
Dieser Teil der Hirnrinde ist in Nagetieren entsprechend seiner Wichtigkeit sehr groß und klar geordnet. Misst man nun die elektrischen Impulse von Neuronen, wie zum Beispiel die Aktionspotentiale oder das Membranpotential einzelner Zellen, und markiert den Punkt der Messung, so kann man diese Daten auf der anatomischen Karte der Hirnrinde abbilden. Auf diese Weise lassen sich Beziehungen zwischen dem Ort und der Form einer Nervenzelle und ihrer elektrischen Funktion ableiten.
Wie bereits von früheren Untersuchungen bekannt war, verändert sich dieser Gehirnbereich, wenn einem Tier frühzeitig nach der Geburt bestimmte Tasthaare entfernt werden und die von diesen Haaren kommenden Informationen den jungen Tieren folglich fehlen. Doch die diesen Veränderungen zugrunde liegenden zellulären Mechanismen waren bisher unbekannt. Den Heidelberger Max-Planck-Forschern gelang es nun, diese Veränderungen mit neuartigen Methoden zu untersuchen. Um die durch die Reizung eines Tasthaars hervorgerufene elektrische Aktivität sichtbar zu machen, benutzten sie einen spannungsabhängigen Fluoreszenzfarbstoff, der seine Fluoreszenz entsprechend der elektrischen Aktivität des Gehirns verändert. Auf diese Weise kann man die „Erregung“ einer großen Zahl von Nervenzellen und die räumliche Verteilung des Erregungsmusters mit einer zeitlichen Auflösung von einigen Tausendstel Sekunden tatsächlich „sehen“.
Einige Tage nach dem Entfernen der Barthaare konnten die Forscher beobachten, dass sich die durch Reizung eines der verbliebenen Tasthaare ausgelöste Erregung zu jenen Hirnregionen hin orientierte, die noch intakte Haare repräsentierten, und weg von jenen, die keine Informationen mehr von ihrem Tasthaar erhalten. Diese Veränderungen des Signalflusses im Gehirn konnten die Forscher darauf zurückführen, dass sich sowohl die Verschaltungen der Nervenzellen als auch die Anatomie der Zellen durch das Auswachsen neuer Zellfortsätze verändert hatten. So stellt es sich heraus, dass sich zwischen Regionen, die den sensorischen Input von intakten Tasthaaren erhalten, mehr Synapsen und mehr Verzweigungen neuer Zellfortsätze ausbilden. Auf der anderen Seite wurden die Verbindungen zu Zellen in jenen Regionen, die keinen Tasthaar-Input erhielten, schwächer.
Die Forscher schließen aus ihren Beobachtungen, dass sich kortikale Areale mit ähnlichem Input während der Entwicklung bevorzugt verbinden und damit möglicherweise die Grundlage für die Arbeitsteilung in der Großhirnrinde liefern. Solche drastischen zellulären Veränderung nach dem bloßen Entfernen von Tasthaaren sind deswegen von großem Interesse, weil die Anpassungsfähigkeit des Gehirns in der Entwicklung oder nach Schädigungen wie etwa beim Schlaganfall nicht auf der Bildung neuer Nervenzellen beruhen kann, sondern eine Modifikation der vorhandenen Zellen voraussetzt.
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Dr. Michael Brecht
Max-Planck-Institut für medizinische Forschung, Heidelberg
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