Genprüfstand für Medikamente

Neue gentechnische Methoden ermöglichen es, die Eigenschaften und Wirkmechanismen von Arzneistoffen und Chemikalien so weitgehend zu erforschen wie nie zuvor. Der neue Forschungszweig »Pharmaka- und Toxikogenomics«, eröffnet, wie das Fraunhofer-Magazin 2.2001 berichtet, den Weg zur schnellen Entwicklung neuer, maßgeschneiderter Medikamente: für jeden Patienten die optimale Therapie.

Menschen reagieren verschieden auf Medikamente. Was dem einen hilft, kann dem anderen schaden. Mitunter wirken Arzneimittel auch gar nicht. Über- oder Unterdosierung bedeuten – je nach Patient – unzureichende Therapie oder übermäßige Nebenwirkungen mit teilweise bedrohlichen Folgen. Laut Schätzungen sterben in den USA 100 000 Menschen pro Jahr an unerwünschten Arzneimittelfolgen; und in Frankreich sollen drei Prozent der Klinikeinweisungen darauf zurückgehen.

Bisher kann ein Arzt nur nach recht groben Kriterien bestimmen, und letztlich muss er ausprobieren, welches der verschiedenen Mittel für den jeweiligen Patienten das richtige sein könnte. Diesem Missstand wollen Pharmakogenetiker ein Ende bereiten – mit der Suche nach den kleinen genetischen Unterschieden, die Einfluss auf die Verwertung von Medikamenten haben oder die Angriffspunkte für Medikamente verändern. Winzige Differenzen im Erbgut bewirken direkt oder indirekt, wie anfällig der einzelne für Krankheiten ist und wie er Substanzen im Körper verarbeitet. Zu diesen genetischen kommen epigenetische Faktoren, das sind die im Laufe des Lebens erworbenen Veränderungen der Genaktivität. Eine genetische Veranlagung allein muss nicht krank machen, meist kommen Auslöser hinzu – durch Ernährung und Umwelteinwirkungen. Gerade chronisch-degenerative Krankheiten entwickeln sich oft über Jahrzehnte. Im Krankheitsverlauf ändert sich die Aktivität der Gene. Kennt man das Zusammenspiel der genetischen und umwelterzeugten Faktoren, kann man Krankheiten gezielt vorbeugen.

Die Pharmakogenetiker interessieren sich vor allem für jene DNA-Variationen, die krankheitsrelevant sind. Ziel ist herauszufinden, wie der einzelne Mensch Arzneistoffe verarbeitet, ob ihm bestimmte Stoffe helfen oder schaden. Das eröffnet den Weg zur maßgeschneiderten Therapie: Wenn Medikamente auf Patienten mit einem bestimmten genetischen Profil zugeschnitten sind, kann der Arzt mit einem einfachen Test ermitteln, welche Arznei dem jeweiligen Patienten am besten hilft und wie sie optimal dosiert wird.

Damit dieser Wunsch vieler leidgeprüfter Patienten bald Wirklichkeit wird, hat das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Aerosolforschung ITA in Hannover eine großangelegte Forschungsoffensive zu »Pharmaka- und Toxikogenomics« gestartet. »Forschungsziel ist die Entwicklung neuartiger Biochips und der Aufbau von Datenbanken, die wesentlich zum Verständnis von pharmakologischen und toxikologischen Vorgängen im menschlichen und tierischen Organismus beitragen«, beschreibt Projektleiter Privatdozent Dr. Jürgen Borlak die anspruchvolle Aufgabe: »Mit diesen molekularen Prüfsystemen können wir dann potenzielle Arzneistoffe für unterschiedliche therapeutische Anwendungen schon in einer frühen Phase der Wirkstoffsuche schnell und in völlig neuer Qualität bewerten.« Diese interdisziplinäre Forschungsstrategie verspricht erhebliche Impulse für die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland. Sie soll in die Lage versetzt werden, das Nebenwirkungsprofil ihren Arzneikandidaten dosis-, zeit- und speziesspezifisch abzuklären. Das Konzept überzeugte auch das Land Niedersachsen, das BMBF und die Industrie: Sie investieren 20 Mio Mark für den Aufbau dieser neuen Pharmaforschung und medizinischen Biotechnologie am ITA – das größte Projekt, das zur Zeit in der Fraunhofer-Gesellschaft gestartet wird.

Häufig wird übersehen, dass die Forschung – jenseits der Reizthemen Klonen, Präimplantationsdiagnostik und embryonale Stammzellen – interessante neue Konzepte entwickelt, die eine ganzheitliche Erklärung des Zusammenhangs von genetischer Veranlagung, Krankheit und Therapie versprechen. Für viele Menschen heißt die zentrale Frage: Wie kann ich durch gesunde Ernährung, Vermeidung von Umwelteinwirkungen und die richtige Arznei den Ausbruch von Krankheiten verhindern oder zumindest verzögern?

Der mit Abstand wichtigste Markt für Anwendungen der Biotechnologie liegt nach wie vor in der Gesundheit – der Herstellung von Medikamenten und Diagnostika. Schon heute wird mit gentechnisch produzierten Wirkstoffen wie Insulin, Wachstumshormonen und Gerinnungsfaktoren ein wachsender Anteil am Pharmamarkt erzielt. Zurzeit sind in Deutschland 80 gentechnisch hergestellte Medikamente mit 60 verschiedenen Wirkstoffen zugelassen. Bald wird kein neues Medikament mehr auf den Markt kommen, an dessen Entwicklung nicht die molekulare Biotechnologie beteiligt sein wird. »Im Zeitalter des entschlüsselten Genoms steht auch die Pharmakologie vor einer Revolution«, ist sich Dr. Borlak sicher. Denn gerade in der Arzneimittelforschung eröffnen die neuen interdisziplinären Methoden bisher ungeahnte Möglichkeiten: Neuartige Minilabors mit hohem Durchsatz, die High Trough Put-Systeme (HTS), bieten die vollautomatische Synthese und die Untersuchung von Millionen von potenziellen Wirkstoffen innerhalb eines Jahres. »Eine zwingende Grundvoraussetzung für den Erfolg der HTS-Strategie ist die frühzeitige toxikologische Beurteilung von potenziellen Wirkstoffkandidaten«, weist Jürgen Borlak auf die grundlegende Bedeutung neuer, ebenso hoch automatisierter Prüfsysteme hin.

Die Biochip-Technologie ist das effektivste Instrument für die genomweite Suche nach veränderten Merkmalen. Früher musste man mühsam nach einzelnen Genen suchen. Mit Biochips können gleichzeitig tausende unterschiedlicher DNA-Abschnitte untersucht werden. Durch Belichtung entsteht ein Punktemuster, das zeigt, welche Gene aktiv sind. Die Genexpressionsanalyse macht auf einen Blick komplexe genetische Veränderungen sichtbar. Die Identifizierung der aktiven Gene liefert den Schlüssel, um die funktionellen Zusammenhänge für die Entstehung von Krankheiten und die toxikologischen Wirkungen von Medikamenten und Umweltschadstoffen aufzuklären.

Erstes Arbeitsziel des Schwerpunktes »Pharmaka- und Toxikogenomics« ist es zu überprüfen, ob mit einer genau definierten Gruppe von Zielgenen toxische Wirkungen von Medikamenten vorhergesagt werden können. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um schon in einem sehr frühen Stadium – weit vor einer erkennbar organischen Erkrankung – zu prüfen, welches therapeutische oder toxische Potenzial in einem Arzneistoff steckt. Das »Trouble Shooting« risikobehafteter Produkte wird möglich: Bei bekannten Arzneimitteln können Risikogruppen genau bestimmt werden, bei Neuentwicklungen kann man problembelastete Wirkstoffkandidaten frühzeitig ausschließen.

Zehn Jahre dauert bisher die Entwicklung von Medikamenten. Dennoch können nicht alle Risiken ausgeschlossen werden. Versuchstiere müssen herhalten, um potenziell gefährliche Stoffe zu identifizieren. Erst mit weiteren Untersuchungen kann eine Risikoabschätzung und Extrapolation auf den Menschen vorgenommen werden. Die Entwicklung spezieller Biochips könnte die Markteinführung von Arzneimitteln erheblich beschleunigen und die Sicherheit erhöhen. Und vieles mehr, denn viele Chemikalien sind unzureichend auf ihr toxisches Potenzial untersucht. Nur für eine begrenzte Zahl gibt es Langzeitstudien über ihre kanzerogene Wirkung. Diese Lücken könnte die Biochip-Technologie schließen. Verbraucher erhielten geprüfte Chemikalien und die Industrie könnte Kosten und Zeit einsparen, weil viele der bisherigen toxikologischen Prüfungen überflüssig wären.

Ein weiterer Schwerpunkt des Forschungsprogramms ist ein Klassifizierungssystem, mit dem vorhergesagt werden kann, welche Chemikalien kanzerogen sind. Voraussetzung ist die Erkenntnis, dass in Tumorgeweben die Expression bestimmter Gene verändert ist – mit charakteristischen Veränderungen während der verschiedenen Stadien der Tumorbildung. Borlak ist überzeugt, »dass die Kenntnis der Expressionsmuster fundamental neue Informationen bringen und ganz wesentlich zum Verständnis des Wirkmechanismus der Kanzerogene beitragen wird.« Die »molekularen Fingerabdrücke« wollen die Partner in der größten europäischen Datenbank für toxikologische Genprofile speichern. Damit entsteht ein umfassendes und effektives Prüfwerkzeug für das schnelle Wirkstoffscreening.

Die Initiative »Pharmaka- und Toxikogenomics« ist ein wichtiges Ergebnis der Strategieplanung des Fraunhofer-Verbundes Life Sciences. In ihm haben sich das ITA in Hannover, das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT, St. Ingbert, das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen und Bioverfahrenstechnik IGB, Stuttgart, und das Fraunhofer-Institut für Umweltchemie und Ökotoxikologie IUCT, Schmallenberg/Aachen, zusammengeschlossen, um ihr Know-how auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften zu bündeln und zielgerichtet auszubauen.

Von der Entschlüsselung der Wirkmechanismen von Arzneistoffen und Umweltchemikalien können alle profitieren – Patienten, Ärzte, Pharmaindustrie: Wer wünscht sich nicht »seine Medizin«, maßgeschneidert, hochwirksam und frei von schädlichen Nebenwirkungen?
Franz Miller

Ansprechpartner:
Dr. Jürgen Borlak
Telefon 05 11/53 50-5 59, borlak@ita.fhg.de
Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Aerosolforschung ITA
Nikolai-Fuchs-Straße 1, 30625 Hannover

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