Wozu Fische in der finsteren Tiefsee Augen haben

Die Tiefen der Meere werden bisher hauptsächlich wegen der dort lagernden Bodenschätze erforscht. Doch gibt es in diesem unwirtlichen Lebensraum auch zahlreiche Tiere, über die bisher wenig bekannt ist. Der Tübinger Anatom Prof. Hans-Joachim Wagner will das ändern. Er erforscht, welche Sinne Fische, Krebse und Tintenfische besitzen und einsetzen, um sich in den kalten und dunklen Gewässern zurechtzufinden.

Tübinger Anatom erforscht Sinnesorgane und Wahrnehmungsfähigkeiten sowie Biorhythmen der Meeresbewohner

Die Tiefsee macht 99 Prozent des Lebensraumes auf der Erde aus – wenn man das Volumen betrachtet. Dennoch gibt es weltweit nur wenige Wissenschaftler, die sich die Erforschung der dort lebenden Organismen zur Aufgabe gemacht haben. Früher hielten viele Forscher die kalten und dunklen Bereiche der Ozeane biologisch betrachtet für eine Wüste. Heute weiß man zwar, dass es dort komplexe und hoch komplizierte Lebensgemeinschaften gibt. Doch die Erforschung der Meereswesen in einer Tiefe bis zu 4000 Metern stellt die Wissenschaftler auch heute noch vor praktische Probleme. Schließlich lassen sich die Lebewesen nicht ohne weiteres vor Ort beobachten; holt man sie jedoch an die Oberfläche, sterben sie schnell. Prof. Hans-Joachim Wagner vom Anatomischen Institut der Universität Tübingen lässt sich dennoch nicht von der Tiefseeforschung abschrecken. Ihn interessieren vor allem die Sinnesorgane und Wahrnehmungsfähigkeiten von Fischen, Tintenfischen und Krebsen. Vor kurzem ist er von einer Forschungsfahrt mit dem amerikanischen Schiff „New Horizon“ vor der kalifornischen Küste zurückgekehrt.

Allerdings ist der Anatomieprofessor bei seinen Forschungen nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden. In der Tiefsee ist es fast überall unter vier Grad Celsius kalt, viele der dort vorkommenden Arten sind weltweit verbreitet. „Bis in die Tiefe von etwa 1000 Metern reicht ein Teil der Sonnenstrahlung, darunter haben die Lebewesen keinerlei Tageslicht mehr“, erklärt Hans-Joachim Wagner. Daher teilt der Forscher die Tiefsee bei seinen Untersuchungen in zwei Zonen: den Lebensraum über 1000 Meter und den darunter bis etwa 4000 Meter. „Dort ist an den meisten Stellen der Boden erreicht, nur einzelne Gräben in der Tiefsee sind noch tiefer“, sagt Wagner. Dennoch haben auch viele der Tiere, die unterhalb von tausend Metern leben, große Augen. „Man darf sich die Umgebung dort nicht als völlige Dunkelheit vorstellen“, sagt Wagner. Denn etwa 90 Prozent der Lebewesen in der Tiefsee erzeugen selbst sichtbares Licht – Biolumineszenz heißt das Phänomen. „Lässt man eine Kamera in die Tiefe hinab, sieht man Bilder wie bei einem Feuerwerk“, so der Forscher. Allerdings verursache schon die Druckwelle der Kamera eine Störung, auf die die Tiere wahrscheinlich mit verstärkter Lichtaussendung reagierten. Die Lichterzeugung dient unterschiedlichen Strategien: Bekannt sind zum Beispiel die Anglerfische: Sie nutzen eine beleuchtete Angel als Köder, um andere Fische anzulocken und zu fressen. „Bei anderen Fischen dient die Biolumineszenz zur gegenseitigen Erkennung. Seitlich sind in Abständen, bei Männchen und Weibchen mit jeweils unterschiedlichen Mustern Leuchtpunkte zu sehen“, erklärt Wagner. Ein Krebs schütze sich, indem er eine biolumineszierende Wolke ausspuckt, die noch leuchtet, wenn er selbst längst weg ist. So werden seine Fressfeinde desorientiert. „Meistens produzieren die Tiefseelebewesen Licht im blau-grünen Bereich“, sagt der Forscher, „englische Kollegen haben jedoch auch Fische entdeckt, die neben dem blauen rotes Licht produzieren. Damit leuchten sie Beutefische an, die das rote Licht nicht sehen können, sie benutzen praktisch ein Nachtsichtgerät.“

Am lebenden Tier kann Hans-Joachim Wagner physiologische Vorgänge meistens nicht erforschen. „Wenn die Fische von Schiffen aus über Spezialvorrichtungen nach oben geholt werden, leben sie höchstens noch ein paar Stunden“, erzählt er, „bisher ist es nicht gelungen, Tiefseefische in Aquarien zu halten.“ Doch auch an den toten Tieren lässt sich feststellen, dass sie teilweise sehr alt werden, bis zu mehrere Jahrzehnte. Ihr Stoffwechsel ist in der Tiefe sehr langsam. „Die Nahrung kommt in der Tiefsee meist von oben“, sagt Wagner. „Algen rieseln als so genannter Schnee hinunter, aber auch ein toter Wal zum Beispiel bietet den Tiefseefischen über Jahre hinweg Nahrung.“ Andere Fische wiederum fressen die Aasvernichter. „Da gibt es Generalisten und Spezialisten, im Magen eines Fisches wurden zum Beispiel nur Fischschwänze gefunden.“ Wagner erforscht Sinnesorgane und Gehirn der Tiefseefische. Er will wissen, welche Sinne vorhanden sind und in welchem Umfang die Fische diese nutzen. „Die meisten können sehen, hören und riechen“, sagt er nach einem anatomischen Vergleich von rund 200 verschiedenen Arten. „Manche nutzen alle Sinne, andere vor allem die Augen, bei weiteren Arten handelt sich praktisch um ’schwimmende Nasen’“, sagt Wagner. Das kann der Forscher aus Vergleichen der Hirnanatomie schließen, durch die Untersuchung der jeweils zuständigen Bereiche im Gehirn.

„Die Augen sind bei den Tiefseefischen meistens sehr groß. Und sie sind nicht farbtüchtig“, erklärt Wagner. Denn ihre Sehzellen sind ausschließlich oder zum überwiegenden Teil so genannte Stäbchen. Die sind empfindlich auch für geringe Lichtmengen, taugen aber nicht für die Farbunterscheidung. Der Mensch besitzt neben den Stäbchen auch Zapfen – Sehzellen für das Farbensehen. „Es gibt nur wenige Wirbeltiere, die nur Stäbchen besitzen. Bei den Tiefseefischen sind sie sehr lang, sehr zahlreich und besonders lichtempfindlich“, sagt der Wissenschaftler. Außerdem hat er festgestellt, dass bei den Tiefseefischen 100 oder 200 Stäbchen ihre Wahrnehmungen an eine einzige Nervenzelle weitergeben, um das wenige Licht zu sammeln. Beim Menschen ist – umgekehrt – eine Zapfen-Sehzelle im Bereich des gelben Flecks (Fovea), der Zone der größten Sehschärfe im Auge, mit zahlreichen Nervenzellen verschaltet. „Die Fischaugen sind als Modell für die einfache Informationsverarbeitung im visuellen System geeignet.“

Hans-Joachim Wagner hat auch untersucht, wie der Tagesrhythmus verschiedener Tiefseefische aussieht. „Bei Fischarten wie dem Beilfisch oder dem Vipernfisch, die oberhalb von 1000 Metern leben, kann man vermuten, dass die Sonne einen Rhythmus vorgibt“, sagt Wagner. Tatsächlich halten sie sich tagsüber bei 500 bis 1000 Metern auf, nachts kommen sie bis auf 200 Meter hoch. „Das sind riesige Völkerwanderungen.“ Die fotosynthetisch aktiven Algen bilden die Basis der Nahrungspyramide im Meer. Die Konzentration der Nahrungsmittel ist daher nahe der Oberfläche am höchsten. „Dort leben aber auch die Fressfeinde vieler Tiere, die darum am Tag weiter in die Tiefe abtauchen“, erklärt der Forscher. Doch unterhalb von 1000 Metern ist die Sonne auch für die empfindlichsten Augen nicht zu sehen. Haben die tiefer lebenden Arten auch einen Bio-Rhythmus? Und wie kann man das untersuchen? „Es gibt einen Signalstoff der biologischen Uhren, der nicht nur bei Wirbeltieren vorkommt: Melatonin. Es wird in der Zirbeldrüse des Gehirns gebildet“, sagt Wagner. Der Wissenschaftler hat die Zirbeldrüsen von Tiefseelebewesen gesammelt, die Melatoninkonzentration in den Zellen gemessen und die Drüsen auch in Kultur gehalten. „Es hat sich gezeigt, dass die bodenlebenden Arten wie Tiefseeaale oder Grenadierfische nicht die Sonne als Rhythmusgeber haben, sondern den Mond, dessen Phasen sie durch die Strömungswechsel der Gezeiten wahrnehmen.“ Die Änderungen der Strömungsrichtung werden vom Seitenliniensystem und durch Änderungen bestimmter Signal- und Geruchsstoffe wahrgenommen.

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Michael Seifert idw

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