Zellen in Grenzgebieten – Entschlüsselung grundlegender Mechanismen der Gestaltbildung
Max-Planck-Wissenschaftler entdecken wichtigen Signalempfänger bei der Embryonalentwicklung / Signalkette möglicherweise auch bei der Krebsentstehung involviert
Bei der Entschlüsselung der komplexen Signalketten, die das Verhalten von Zellen in der frühen Embryonalentwicklung steuern, sind Wissenschaftler der Arbeitsgruppe um Herbert Steinbeisser vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen jetzt einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Sie konnten einen Rezeptor identifizieren, der maßgeblich das Trennungsverhalten von Zellen im Wirbeltierembryo beeinflusst und Bestandteil eines bisher noch kaum beschriebenen Signalweges ist (nature, 25 Oktober 2001). Die Wissenschaftler der von Prof. Peter Hausen geleiteten Abteilung Zellbiologie ebnen damit den Weg zu einem tieferen Verständnis embryonaler Gestaltbildungsprozesse bzw. umgekehrt zu den Ursachen von Missbildung.
Alle Organismen entfalten von der Eizelle bis hin zum erwachsenen Organismus ihre eigene Komplexität. Inmitten dieser verwirrenden Vielgestaltigkeit des Lebens suchen die Wissenschaftler nach zugrunde liegenden Konzepten, den „Gestaltungsgesetzen“. Für das Entstehen einer charakteristischen dreidimensionalen Gestalt werden nicht nur Zellen vermehrt und verlagert, sondern auch Gewebe durch so genannte Einstülpungsvorgänge umgelagert. Bei vielen Keimen können nach der Gastrulation, einem sehr umfangreichen Umorganisationsprozess, drei Gewebeschichten identifiziert werden: das Ektoderm, Mesoderm und Entoderm. Im Laufe der weiteren Entwicklung bilden diese drei Keimblätter alle Strukturen des erwachsenen Organismus aus. Die Trennung der drei Gewebsschichten bzw. Keimblätter im frühen Embryo erlaubt nur eindeutige Jas oder Neins – hier muss die Grenzziehung scharf sein und definitive Unterscheidungen sowie saubere Zuordnungen ermöglichen. Im anderen Fall kommt es zu einer Mischung von Zellen verschiedener Keimblätter und damit zu dramatischen Missbildungen des Embryos. Die Zellen der embryonalen Gewebe müssen also die jeweiligen Keimblattgrenzen anerkennen. Was jedoch sind die molekularen Grundlagen ihres Trennungsverhaltens? Welche Signalketten müssen angeschaltet sein, damit eine Zelle weiß, welchem Gewebe sie zugeordnet ist? Wie erfolgt die Grenzziehung?
Bei der Entschlüsselung solcher Signalketten hat die molekulare Entwicklungsbiologie in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt. So genannte Wnt-Signalwege steuern sowohl die Festlegung von Gewebetypen als auch Morphogeneseprozesse. Als Signalmoleküle fungieren die Wnt-Proteine, die sich an bestimmte Rezeptoren anlagern, die quasi wie Antennen arbeiten und das Signal in die Zelle weiterleiten. Sie gehören zur Familie der Frizzled Rezeptoren. Eine Reihe von intrazellulären Signalketten werden durch sie geschaltet. Dabei unterscheiden die Wissen-schaftler zwei Klassen von Signalwegen: den canonischen und den nicht-canonischen. Bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster steuert der canonische Signalweg unter anderem die Fest-legung der Polarität der Körpersegmente. Im Zebrafisch- und Froschembryo ist es die Ausbildung der Rückenseite. Über nicht-canonische Signalwege werden dagegen beispielsweise die Orientie-rung der Haare und Borsten auf dem Fliegenkörper reguliert sowie die Zellbewegungen bei Zeb-rafisch und Krallenfrosch Xenopus laevis während der Gastrulation. Ein weiterer nicht-canonischer Signalweg, der Wnt/PKC-Weg (Proteinkinase C), beeinflusst die Morphogenese.
Trennungsverhalten von Mesoderm und Ektoderm:
Links: Normales Trennungsverhalten der Zellen beim Krallenfrosch Xenopus,
Rechts: Verlust des Trennungsverhaltens nach Blockierung des Frizzled 7-Rezeptors.
Fotos: Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie
Im Rahmen ihres Promotionsvorhabens konnte Araceli Medina aus der Arbeitsgruppe von Her-bert Steinbeisser am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie einen der Rezeptoren aus der Frizzled-Familie identifizieren – es ist der Frizzled 7 beim Krallenfrosch Xenopus, welcher in bei-den oben beschriebenen Signalwegen aktiv ist. Er wird im frühen Embryo in einem Bereich pro-duziert, den die Wissenschaftler als Urmundlippe bezeichnen. Durch kurze Nukleotidketten, so genannte antisense Oligonukleotide, konnten die Max-Planck-Wissenschaftler die Synthese dieses Rezeptors blockiert. Sie stellten eine fehlerhaften Ausbildung der embryonalen Körperachse fest, weil sich Zellen des Ektoderms und des einwandernden Mesoderms nun mischen und damit die Einstülpungsbewegung zur Bildung der Urmundlippe verzögern bzw. stoppen.
In einem von Rudolf Winklbauer entwickelten Testverfahren konnten Aracelia Medina und Ra-jeeb Swain zeigen, dass die mesodermalen Zellen aus der oberen Urmundlippe ohne den Frizzled 7-Rezeptor kein Trennungsverhalten mehr gegenüber dem Ektoderm besitzen – sie werden quasi zu „Grenzgängern“. Darüber hinaus konnten sie in ihren Experimenten nachweisen, dass Xenopus Frizzled 7 über den noch weitgehend unbekannten Wnt/PKC-Weg aktiv ist. Damit ergeben sich zum ersten Mal konkrete Hinweise auf die Funktion dieses Signalweges sowie auf die molekulare Steuerung des Trennungsverhaltens von Ektoderm und Mesoderm.
Für die Wissenschaftler ist es nun auch möglich zu testen, wieweit die Steuerung der Keimblatttrennung im Zuge der Evolution und damit über die Artgrenzen hinweg erhalten geblieben ist. Darüber hinaus spielt Trennungsverhalten zwischen Zellschichten und Geweben nicht nur bei der frühen Embryonalentwicklung eine Rolle, sondern auch bei der Organbildung und -regeneration. Sind hier dieselben oder ähnliche Signalwege beteiligt? Interessant ist die mögliche Verbindung zum Verhalten von Krebszellen, die invasives Wachstum zeigen – es gibt starke experimentelle Belege dafür, dass Wnt-Signalketten auch hier von Bedeutung sind.
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Dr. Herbert Steinbeisser
Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen
Tel.: 0 70 71 / 6 01 – 3 68, Fax: 0 70 71 / 6 01 – 4 49
E-Mail: herbert.steinbeisser@tuebingen.mpg.de
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