Wenn Pflanzen auf dem Bildschirm "wachsen"
Virtuelle Pflanzenbestände – ein Werkzeug zur Erforschung des Pflanzenwachstums
Der Begriff „virtueller Pflanzenbestand“ umreißt ein naturwissenschaftliches, stark interdisziplinär orientiertes Arbeitsgebiet. Dabei werden die Zusammenhänge im Systemverbund Pflanzenbestand-Boden-Atmosphäre mit den Mitteln der mathematischen Modellierung im virtuellen Raum erforscht und computergrafisch visualisiert. Das erfordert die Zusammenführung von Wissen aus so unterschiedlichen Fächern wie Agrarwissenschaft, Informatik, Biologie, Biophysik und Mathematik. Unter Leitung von Prof. Dr. Wulf Diepenbrock wird im Agrarökologischen Institut, einem An-Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, an der Modellierung virtueller Pflanzenbestände geforscht.
In den letzten Jahren hat sich die dreidimensionale Computergrafik von einem reinen Forschungsgegenstand schnell zu einem Teil unserer Erfahrungswelt entwickelt. Realistische, computergenerierte virtuelle Welten in Film und Fernsehen gehören heute schon zu unserem „Alltag“. Doch sie werden auch in Wissenschaft und Ingenieurtechnik angewandt, so in der Medizin, der Astronomie und der technischen Konstruktion. Der besondere Wert virtueller Welten liegt in der Möglichkeit ihrer interaktiven Erzeugung, ihrer Visualisierung und nicht zuletzt in der möglichen Veränderung. Beispiele sind hier die Planung und Gestaltung von Stadtlandschaften, die Konstruktion von Gebäudearchitekturen oder die Optimierung der Lichtverhältnisse in Arbeitsräumen.
Einbeziehung von Raum und Zeit
In neuester Zeit findet der Begriff „virtuelle Welt“ auch im Bereich der Pflanzenbauwissenschaften Eingang – so als „virtueller Pflanzenbestand“. Also „virtual reality“ in der Landwirtschaft? Hier geht es auf jeden Fall um mehr als eine bloße „Visualisierung“. Solche virtuellen Pflanzenbestände können räumlich dreidimensionale Beziehungen, topologische und morphologische Charakteristika abbilden. Es ist damit möglich, die Architektur von Einzelpflanzen und sogar Pflanzenbeständen darzustellen. Durch die Einbeziehung der Zeit als vierte Dimension lassen sich auch pflanzliche Bewegungen, relativ langsame Wachstums- und Entwicklungsprozesse sowie die Architekturdynamik von Pflanzen in Raum und Zeit untersuchen. Man kann auf diese Weise Prozesse, die in der Natur Monate, ja sogar Jahre dauern, gewissermaßen im „Zeitraffer“ sichtbar machen. Virtuelle Pflanzenbestände können darüber hinaus zur quantitativen Beschreibung der Ertragsbildung, von Konkurrenzbeziehungen der Pflanzen untereinander und ihrer Wechselwirkungen mit der Umwelt herangezogen werden. Ein Beispiel: das Mikroklima, also Lichtintensität, Temperatur und Feuchte der Luft. Produktionstechnische Bedingungen für das Pflanzenwachstum wie Fruchtfolge und Düngung lassen sich mit virtuellen Pflanzenbeständen ebenfalls formal beschreiben und bewerten. Das gilt gleichermaßen für die wirksame Licht- und Wassernutzung unterschiedlich strukturierter Pflanzenbestände. Virtuelle Pflanzenbestände können auch zur Beschreibung messbarer Eigenschaften der für die Stoffbildung wichtigen Licht- und Schattenbereiche im Pflanzenverband herangezogen werden. Sie sind damit hervorragend zur interaktiven Analyse der Wachstums- und Differenzierungsprozesse von Einzelpflanzen und Pflanzenbeständen verwendbar.
Interdisziplinarität
Neuartige Einsatzmöglichkeiten der virtuellen Pflanzenbestände ergeben sich im Rahmen der computer-gestützten Entscheidungshilfe in Pflanzenbiotechnologie, Pflanzenzüchtung und Pflanzenbauwissenschaften. Dafür müssen adäquate mathematische Verfahren zur Quantifizierung des Pflanzenwachstums, der Ertragsbildung und nicht zuletzt entsprechende Visualisierungstools angewendet und – falls noch nicht vorhanden – neu entwickelt werden. Diese zukunftsweisende Zielstellung ist eine Herausforderung an die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Zu verwirklichen ist sie nur durch die Zusammenführung unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachgebiete wie Agrarökologie, Acker- und Pflanzenbau, Gemüse- und Obstbau, Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung, Nutzpflanzenkunde, Informatik und Biometrie. Geplant ist für die Zukunft eine DFG-Forschungsgruppe auf dem Gebiet der virtuellen Pflanzenbestände, in der Wissenschaftler aus verschiedenen Hochschulstandorten Deutschlands mitarbeiten.
Prof. Dr. Wulf Diepenbrock / Dr. Monika Lindner
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Wulf Diepenbrock
Agrarökologisches Institut an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg e. V.
Tel.: 0345/552 2600
Fax: 0345/552 7119
E-Mail: diepenbrock@landw.uni-halle.de
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