"Haufen Heu" als Spiegel der Vergangenheit

1920 wurde zwischen Beuel und der Siegmündung eine Moosart gefunden, die zur Hauptsache im westlichen Mittelmeergebiet beheimatet ist. Nach wärmeren Wintern kam die Art dann auch gelegentlich in Mitteleuropa vor, ist also ein Klimaindikator. Aufgrund der rezenten Erwärmung ist sie seit 10 Jahren jetzt in Mitteleuropa wieder häufiger anzutreffen. <br>Fotograf: AG Frahm / Uni Bonn

Für den einen sind sie ein Haufen Heu, für den anderen wissenschaftliche Schätze: Sammlungen getrockneter Pflanzen, die sogenannten Herbarien. Botaniker der Universität Bonn untersuchen momentan ein uraltes Moosherbar aus dem Rheinland, das vor einigen Jahren per Zufall wiederentdeckt wurde. Einige der gepressten Pflanzen sind in unseren Breiten inzwischen längst ausgestorben; die chemische Analyse der Proben erlaubt zudem weitreichende Rückschlüsse auf die damalige Schadstoffbelastung der Luft.

Als Professor Dr. Jan-Peter Frahm 1994 an das Botanische Institut in Bonn kam, fand er dort per Zufall vier zusammengeschnürte Packen mit hunderten beschrifteten Papierkapseln, in denen sich Moose befanden. Bei Durchsicht stellte sich heraus, dass es sich dabei um einen Teil eines offenbar größeren Moosherbars handelte. Die ältesten Proben stammten aus dem Jahre 1803, also noch aus der Zeit vor der Universitätsgründung im Jahr 1818, die jüngsten aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Bei der Suche nach der restlichen Herbar fanden die Wissenschaftler in den Sammlungen der Pharmazeutischen Biologie noch weitere 13 Packen mit Moosproben.

An dem Fund hatte der Zahn der Zeit schon kräftig genagt: „Das früher nicht säurefreie Papier war brüchig geworden, so dass die Herbarbögen und die Papierkapseln, in welche die Moose eingeschlagen waren, regelrecht zerbröselten“, erklärt Professor Frahm. Da die Arten zudem in einer schlecht durchschaubaren Ordnung abgelegt waren, führte die Suche nach bestimmten Proben noch zu einer weiteren Zerstörung des Papiers. „Da Papier seinerzeit wertvoller war als heute, verwendete man vielfach Universitätsdrucksachen wie Vortragsankündigungen zum Aufbewahren der Moose“ – eine historische Fundgrube.

Um das Herbar zu retten, stellte die Universität schließlich die ABM-Kraft Dr. Beatrice van Saan-Klein ein. Sie bettete die Pflanzen in säurefreies Papier um und katalogisierte die Sammlung im Computer. Die genaue Durchsicht des Herbars offenbarte erstmalig die wertvollen Schätze, die dort viele Jahre unerkannt lagen. „Da lässt sich zunächst der allgemeine Artenrückgang dokumentieren“, erklärt der Botaniker. Das Herbar deckt eine Zeitspanne von 130 Jahren ab; dadurch lässt sich der Zeitpunkt des Aussterbens gewisser Arten genau bestimmen. So taucht seit 1820 ein Siebengebirgs-Moos namens Antitrichia curtipendula in der Sammlung auf. Zunächst sind die gesammelten Pflanzen noch gut ausgebildet, das zuletzt dokumentierte Exemplar von 1923 ist dagegen kaum noch wiederzuerkennen. „Wir vermuten, dass die gegen Ende des 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung durch die damit verbundene Luftverschmutzung der Art die Lebensgrundlage entzogen hat“, erklärt Professor Frahm. 1920 konnte in Bonn kurzzeitig ein Moos gefunden werden, das normalerweise nur im Mittelmeerraum vorkommt. „Die mediterrane Art konnte hier nur existieren, wenn es warm genug war, was auf eine kurze Klimaanomalie schließen lässt.“

Die Herbarproben geben jedoch nicht nur Informationen über die ehemalige Verbreitung, sondern erlauben auch ökologische Rückschlüsse. So speichern Moose unter anderem große Mengen von Schwermetallen aus der Atmosphäre. Die Herbarpflanzen dokumentieren die damalige niedrige Schwermetallbelastung. Botanik-Doktorand Andreas Solga hat dagegen den Stickstoffgehalt der Herbarproben untersucht und mit heutigen Pflanzen derselben Art und von denselben Standorten verglichen. So hat heute eine Moosart aus dem Kottenforst einen deutlich höheren Stickstoffgehalt als noch vor 150 Jahren, Folge der Luftverschmutzung mit Stickoxiden aus Verbrennungsprozessen.

„Aus einem Teil der Herbarpflanzen könnten wir zudem die Erbinformation DNA isolieren“, erläutert Professor Frahm. So wäre es möglich, genetische Fingerabdrücke selbst von ausgestorbenen Arten zu gewinnen oder die DNA bedrohter Arten für die Zukunft zu konservieren.

Weitere Informationen: Professor Dr. Jan-Peter Frahm, Botanisches Institut der Universität Bonn, Tel.: 0228/73-2121, Fax: 0228/73-3120, E-Mail: frahm@uni-bonn.de

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Frank Luerweg idw

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