Was haben menschliches Gehirn und Wirtschaftsbetriebe gemeinsam?
Dynamische Netzwerkstrukturen im Zentralen Nervensystem
Aus der Forschung
Privatwirtschaftliche und öffentliche Betriebe werden zunehmend umorganisiert. Hierarchisch geordneten Ebenen werden durch netzwerkartige Strukturen ersetzt, um auf veränderte Anforderungen des Wirtschaftslebens schneller und effektiver reagieren zu können.
Als Modell dafür könnte ein Teil des Zentralen Nervensystems (ZNS) dienen. Am Institut für Physiologie des Fachbereichs Humanmedizin der FU Berlin/UKBF wird in der AG Neurovegetative Regulationen (Leitung Prof. Dr. med. Peter Langhorst) seit vielen Jahren die Formatio reticularis des Hirnstamms intensiv untersucht. Lange Zeit galt diese Hirnstammregion als Nervennetz mit unspezifischer Organisation. Die FU-Forscher fanden heraus, dass es sich um ein dynamisch organisiertes Netzwerk handelt. Aus den umfangreichen Analysen der Informationsverarbeitung im Gehirn hat die Arbeitsgruppe Prinzipien dynamischer Organisation abgeleitet und jetzt modellhaft auf nicht biologische Bereiche, zum Beispiel auf Betriebsorganisation, übertragen und mit getesteten Betriebsumorganisationen verglichen.
Die Neurowissenschaftler schlagen nun – wenn auch noch mit wissenschaftlicher Vorsicht – dynamische Netzwerke als Modelle für Umstrukturierungen von Betrieben und anderen gesellschaftlichen Systemen vor.
Die Arbeit wurde jetzt von Dr. Ing. Manfred Lambertz (FU) gemeinsam mit dem Betriebswirt Karl-Heinz Grzenia (Vorstand EBG Gesellschaft für Elektromagnetische Werkstoffe mbH, Bochum) in der „Zeitschrift für Betriebswirtschaft“ (s.u.) publiziert.
Die Formatio reticularis ist eine der wichtigsten „Schaltzentralen“ des ZNS. Ständig werden hier eingehende Informationen aus dem Körper und aus der Umgebung aufgenommen und verarbeitet. Sie reguliert und koordiniert viele lebenswichtige Funktionssysteme wie Kreislauf, Atmung, Muskelspannung, deren unmittelbare Reaktion auf Zustandsänderungen und die Aufmerksamkeit des Gehirns im Schlaf und im Wachsein. Zusätzlich beeinflusst diese Hirnstammregion Wahrnehmung und komplexe Gehirnfunktionen wie Lernen und Erinnerung. Dafür stehen erstaunlich wenig Neurone (Nervenzellen) zur Verfügung. Während die Zahl für das gesamte menschliche Gehirn auf 25 Milliarden geschätzt wird, sind es in der Formatio reticularis vermutlich nur zwei Millionen. Deren Nervenzellen haben besonders weit verzweigte Fortsätze (Dendriten) mit vielen Kontaktstellen, an denen Signale auf die Nervenzelle übertragen werden (Synapsen). Die „Dendritenbäume“ benachbarter Zellen überlappen sich. Empfängt nun ein Abschnitt dieser „Schaltzentrale“ Signale zum Beispiel von einem Bein, stimmen die Informationen in den benachbarten Nervenzellen dieses Abschnittes sehr viel stärker überein als bei weiter auseinander liegenden Neuronen. Hinzu kommt die Flexibilität der einzelnen Neuronen – sie können zu einem bestimmten Zeitpunkt an der Kreislaufregulation, im nächsten Moment an der Atmungsregulation beteiligt sein. Dadurch bilden sich je nach Anforderung des Körpers und Zustand der Schaltzentrale immer neue, zeitlich begrenzte neuronale Untereinheiten („Arbeitsgruppen“) benachbarter Nervenzellen. Wegen dieser dynamischen Organisation (weil also in diesem Netzwerk keine festliegenden Zentren bestehen) wurde der morphologische Begriff "Formatio reticularis" durch die funktionelle Bezeichnung „Gemeinsames Hirnstammsystem“ (GHS) ersetzt.
Die „AG Neurovegetative Regulationen“ an der FU entwickelte Modellvorstellungen zur dynamischen, funktionellen Organisation des GHS und hat sie in Computersimulationen getestet. Daraus ergaben sich drei Grundtypen der Organisation:
* Bei Ruhe und entspanntem Wachsein ist die Aktivität aller GHS – Nervenzellen gering und im gesamten Netzwerk mehr einheitlich organisiert, das GHS ist in diesem Zustand nicht in „Arbeitsgruppen“ unterteilt.
* Muss sich der Organismus an bestimmte Leistungen anpassen, werden die Aktivitäten benachbarter Nervenzellen durch ankommende Signale gekoppelt. Je nach Art der empfangenen Informationen aus dem Körper ändern sich die aktuellen Kopplungsgruppen.
* In Notfallsituationen, bei Schmerzen und bei Informationen über Sauerstoffmangel oder stark erhöhtes Kohlendioxid im Blut, sind die GHS – Nervenzellen wie im Ruhezustand nicht gekoppelt, aber insgesamt sehr aktiv.
Organisation und Dynamik des Netzwerks GHS werden demnach von Informationen bestimmt. Netzwerktypisch ist der ständige wechselseitige Informationsaustausch zwischen der Schaltzentrale und allen Orten des Systems sowie der Nervenzellen mit den ablaufenden Prozessen im gesamten Organismus. Die Grundlage für eine dynamische Netzwerkorganisation bilden nach den Erkenntnissen der Neurowissenschaftler „lokale operationale Einheiten“, wie sie im GHS durch die aktuellen Kopplungen benachbarter Nervenzellen entstehen. Je nach Anforderung sind die Einheiten unterschiedlich groß, und die einzelnen Elemente (= Nervenzellen) können verschiedenen operationalen Einheiten angehören. Sie übernehmen zeitlich begrenzt bestimmte Aufgaben. Die flexible Reaktionsfähigkeit ist dann möglich, wenn die Elemente wenig spezialisiert sind und über Grundinformationen aller Abläufe verfügen, an denen sie beteiligt sein können. Ruhephasen werden für den Informationsaustausch und die Reorganisation innerhalb des Netzwerkes genutzt.
In einem mittelständischen Industriebetrieb wurde die traditionelle, steile Betriebsstruktur mit vielen Hierarchieebenen schrittweise in eine flache, prozessorientierte Netzwerkstruktur umgewandelt. Die bislang getrennten Abteilungen (zum Beispiel Vertriebsdisposition, Logistik) hatten eine ebenso getrennte Informationsverwaltung. Die unterschiedlichen Kenntnisse betrieblicher Abläufe führten zu Verzögerungen und Fehlern. Mit einem computerbasierten Informationsnetz, dass gleichberechtigt alle Mitarbeiter schnell mit internen und externen Informationen versorgte, konnten die Mängel beseitigt werden. Die folgenden Strukturveränderungen führten zu einem nach Marktsegmenten unterteilten Außendienst. Im Innendienst wurden kleine multifunktionale Arbeitsgruppen eingerichtet und den Marktsegmenten und Außendienstmitarbeitern zugeordnet. Innerhalb und zwischen den Arbeitsgruppen werden nun die Informationen schnell ausgetauscht. Das ermöglichte zum einen rasche Entscheidungen, zum anderen können sich Kollegen bei Krankheit und Urlaub gegenseitig vertreten. Auch die Aufgaben der Außendienstmitarbeiter können kurzfristig vom Innendienst übernommen werden.
An dem praktischen Beispiel wird erkennbar, welche Bedingungen die dynamische Organisation begünstigen. Hirnstammsystem und Industriebetrieb stimmen in diesem Sinne in vielen Punkten überein. Besonders, wenn ein System auf nicht vorhersehbare Veränderungen reagieren muss, bieten sich variable Lösungen an. Ist das nicht der Fall, können optimierte feste Strukturen der dynamischen Organisationen überlegen sein.
Deshalb betonen die Wissenschaftler, dass die Kenntnisse biologischer Systeme nicht ohne Einschränkungen auf betriebliche oder soziale Strukturen übertragbar sind. Vielmehr sollen sie als Anregung und Diskussionsgrundlage dienen. Vor allem in der relativ jungen Disziplin „Bionik“ suchen Ingenieurwissenschaftler nach biologischen Lösungen technischer Probleme.
Ansprechpartner:
Dr. Ing. Manfred Lambertz
Institut für Physiologie
Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF)
Fachbereich Humanmedizin der FU Berlin
Arnimallee 22, 14195 Berlin
Tel.: (030) 8445-1682, Fax: -160284 E-Mail: lambertz@zedat.fu-berlin.de
Quelle:
M. Lambertz, K.-H. Grzenia, P. Langhorst:
„Prinzipien dynamischer Organisation – Netzwerkein Neurophysiologie und Betriebswirtschaftslehre“
in: Zeitschrift für Betriebswirtschaftslehre (Gabler-Verlag), Heft 9/2000, Seite 959 – 982
Gabler-Verlag Abraham-Lincoln-Straße 46, 65189 Wiesbaden Tel.: (0611) 7878-0
Bei Rückfragen wenden Sie sich gerne direkt an Dr. Lambertz
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