Neandertaler auf den Zahn gefühlt

Wachstumslinien in einem Neandertalerzahn (links - diagonal verlaufende Linien) und an der Außenseite (rechts - horizontale Linien). Das Zählen und Vermessen dieser Linien half bei der Alterbestimmung des Kindes auf 8 Jahre zum Todeszeitpunkt. Bild: Tanya Smith, MPI für evolutionäre Anthropologie<br><br>

Ein internationales Team unter der Leitung von Forschern des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie hat die Entwicklung bei einem 100 000 Jahre alten Neandertaler-Kind (Homo neanderthalensis) aus Scladina (Belgien) analysiert.

Die Forscher nutzten die Wachstumslinien, die sich im Inneren und an der Oberfläche der Zähne des Kindes befinden, um zu rekonstruieren, wann die Zahnung eintrat und wie alt das Kind zum Todeszeitpunkt war. Das Ergebnis: Im Vergleich zum modernen Menschen vollzog sich das Zahnwachstum beim Neandertaler in den meisten Fällen schneller (PNAS- Onlineausgabe Dezember 2007).

Allgemein ist bei Primaten die Zahnentwicklung, insbesondere die Herausbildung der Backenzähne in einem bestimmten Alter, verbunden mit anderen Entwicklungsschritten wie der Entwöhnung und der erstmaligen Fortpflanzung. Entwicklungsverlauf sowie Fortpflanzung bei Neandertalern sind über Jahrzehnte hinweg heftig debattiert worden. Die Annahme, dass Neandertaler anders aufwuchsen als Mitglieder unserer eigenen Art, des Homo sapiens, wurde durch einige Befunde bestätigt, durch andere dagegen widerlegt.

In einer neuen Studie haben Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig das Innere eines von einem Neandertaler stammenden Backenzahns, Daten aus einem Mikro-CT-Scan desselben Zahns sowie Hinweise auf eine entwicklungsbedingte Spannung analysiert, die auf den Oberflächen der Zahnkronen und -wurzeln zu sehen ist. Auf diese Weise erhielten die Forscher eine erste chronologische Abfolge des Zahnwachstums beim Neandertaler. „Und diese unterscheidet sich von der des heute lebenden Menschen“, erklärt Tanya Smith. „Die Zähne des Scladina-Neandertalers wuchsen schneller.“

Das schnellere Wachstum hat zur Folge, dass das Zahnentwicklungsmuster beim Neandertaler fortgeschrittener ist als bei fossilen und heute lebenden Menschen desselben Alters der Gattung Homo sapiens. Das Kind aus Scladina war daher in seiner Entwicklung auf dem Stand eines 10-12 Jahre alten Menschenkindes, sein Alter zum Todeszeitpunkt wird von den Wissenschaftlern aber auf nur 8 Jahre geschätzt. Dieses Entwicklungsmuster scheint zwischen dem früherer Vertretern der Gattung (z.B. Homo erectus) und heute lebenden Menschen zu liegen. Das Fazit der Anthropologen: Die langsam fortschreitende Entwicklung verbunden mit einer langen Kindheit ist ein rezentes und für uns Menschen charakteristisches Merkmal.

„Wir gehen nun davon aus, dass sich auch andere Aspekte der körperlichen Entwicklung beim Neandertaler schneller vollzogen“, sagt Jean-Jacques Hublin, „und das könnte auch zu maßgeblichen Unterschieden in Verhalten oder Sozialgefüge geführt haben.“

[SJ/CB]

Originalveröffentlichung:

Tanya M. Smith, Michel Toussaint, Donald J. Reid, Anthony J. Olejniczak, Jean-Jacques Hublin
Rapid Dental Development in a Middle Paleolithic Belgian Neanderthal
Proceedings of the National Academy of Sciences USA, Online-Ausgabe Dezember 2007

Media Contact

Michael Frewin Max-Planck-Gesellschaft

Weitere Informationen:

http://www.mpg.de

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Sensoren für „Ladezustand“ biologischer Zellen

Ein Team um den Pflanzenbiotechnologen Prof. Dr. Markus Schwarzländer von der Universität Münster und den Biochemiker Prof. Dr. Bruce Morgan von der Universität des Saarlandes hat Biosensoren entwickelt, mit denen…

3D-Tumormodelle für Bauchspeicheldrüsenkrebsforschung an der Universität Halle

Organoide, Innovation und Hoffnung

Transformation der Therapie von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Bauchspeicheldrüsenkrebs (Pankreaskarzinom) bleibt eine der schwierigsten Krebsarten, die es zu behandeln gilt, was weltweite Bemühungen zur Erforschung neuer therapeutischer Ansätze anspornt. Eine solche bahnbrechende Initiative…

Leuchtende Zellkerne geben Schlüsselgene preis

Bonner Forscher zeigen, wie Gene, die für Krankheiten relevant sind, leichter identifiziert werden können. Die Identifizierung von Genen, die an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind, ist eine der großen…