Das „Überall“ Protein: Ehre für den Entschlüsseler seiner Biologie

3D-Struktur des Proteins Ubiquitin, in rot die Stellen an denen Ubiquitin an sich selbst anheften kann, um verzweigte Ketten zu bilden. Blau ist das N-Ende, gelb das C-Ende der Aminosäurekette. Paul Riviere, CC_BY-SA 3.0 - https://en.m.wikipedia.org/wiki/File:Ubiquitin_Lysines.png

Proteine sind die Arbeitstiere der Zelle: Sie sind Botschafter, Messfühler, Stellschraube, Bauarbeiter und Bauleiter, aber auch Baumaterial und vieles mehr. Dementsprechend kann alles, was sie beeinflusst, weitreichende Folgen haben. Die herrschende Lehrmeinung war, dass Menge und Mischung der Proteine in der Zelle – und damit die Abläufe in ihr – überwiegend durch die Produktion von Proteinen gesteuert wird.

„Aber die bahnbrechenden Arbeiten von Varshavsky haben gezeigt, dass die Zelle über das Ubiquitin-System genauestens dirigiert, wann und welche Proteine abgebaut werden, und dass dies genauso wichtig für die Protein-Balance der Zelle ist wie deren Produktion“, sagt Professor Felix Wieland, Vorsitzender des Gremiums, das die Preisträger auswählt.

„Damit hat Varshavsky Ubiquitin als Chef-Regulator etabliert für eine große Bandbreite von Zellprozessen wie dem Teilungszyklus der Zelle, der DNA-Reparatur oder der Reaktion auf Stress.“ Zusätzlich hat Varshavsky Komponenten identifiziert, die Teil des über 1.500 Elemente umfassenden Ubiquitin-Systems sind, das Ubiquitin zielgenau an andere Proteine anheftet, was deren Abbau einläutet. Häufig musste er dazu erst neue biochemische oder genetische Methoden entwickeln, die heute aus der biomedizinischen Forschung nicht mehr wegzudenken sind.

Varshavsky hat auch als Erster Signale identifiziert, die die Lebensdauer von kurzlebigen Proteinen bestimmen, von denen manche nur wenige Minuten alt werden, andere Stunden oder sogar Tage überdauern, bevor sie abgebaut werden. Proteine bestehen aus verschiedenen, aneinander gereihten Aminosäuren.

Varshavsky hat herausgefunden, dass die Lebensdauer eines Proteins davon abhängt, welche Aminosäuren am so genannten N-Ende der Kette sitzen. Daraus hat er die so genannte „N-Ende Regel“ abgeleitet, die in abgewandelter Form in allen Lebewesen gilt, seien es Bakterien, Pilze, Pflanzen oder Tiere. Das Ubiquitin-System erkennt bestimmte Aminosäuren am N-Ende als Abbausignale und markiert die Proteine mit Ubiquitin für den Abbau.

Über die letzten 20 Jahre haben Varshavsky und andere Wissenschaftler gezeigt, dass Fehler im Ubiquitin-System Krankheiten wie Alzheimer, Diabetes, Krebs, Immunschwächen und vielen anderen zugrunde liegen können.

Angesichts seiner zentralen Rolle ist es nicht überraschend, dass sich das Ubiquitin-Protein selbst im Laufe der Evolution kaum verändert hat: Nur 3 seiner 76 Aminosäuren unterscheiden sich von Hefe zum Menschen. Seinen Namen hat es übrigens erhalten, da es zu der Zeit in allen untersuchten Zellen gefunden wurde – „ubique“ ist das lateinische Wort für überall. Allerdings wusste damals noch niemand, was es tut. Bevor es an andere Proteine angeheftet wird, durchläuft Ubiquitin eine Reihe von Schritten.

Katalysiert werden diese Schritte durch drei verschiedene Typen von Enzymen: E1, E2 und E3. Im Menschen gibt es nur ein wichtiges E1-Enzym, aber etwa 40 verschiedene E2s und sogar etwa 1,000 E3-Enzyme, sowie weitere Komponenten. Diese Vielzahl, besonders bei den E3-Enzymen, ermöglicht es dem System sehr differenziert auf die jeweiligen Proteine und Situationen in der Zelle zu reagieren.

Verstärkt wird dies, da Ubiquitin auch verschiedene Arten von Ketten bilden kann. So kann es ein Protein für schnellen oder langsamen Abbau markieren. Es kann aber auch die Funktion und Aktivität eines Proteins ändern oder bestimmen, wo in der Zelle es hin transportiert wird. Und auch die Entdeckung der Ubiquitin-Ketten haben wir Varshavsky und seinen Mitarbeitern zu verdanken.

Die Bedeutung von Alexander Varshavsky Entdeckungen über die letzten drei Jahrzehnte kann daran gemessen werden, dass viele davon wichtige biomedizinische Forschungsfelder ins Leben gerufen haben, so dass er direkt oder indirekt neue medizinische Therapien ermöglicht hat.

Die feierliche Preisverleihung und das begleitende Symposium des Heinrich-Wieland-Preises am 19. Oktober in München bringen etwa 130 Wissenschaftler zusammen, um Varshavskys Arbeiten zu diskutieren und den Mann zu ehren, dessen Entdeckungen unser Verständnis zahlreicher Abläufe in der Zelle revolutioniert haben.

Alexander Varshavsky – die Biographie
Alexander Varshavsky wurde 1946 in Moskau geboren. Er hat Chemie an der Universität von Moskau studiert und 1973 seinen Doktorgrad in Biochemie am Institut für Biochemie in Moskau erworben. Im Jahr 1977 gelang es ihm durch glückliche Umstände, Russland zu verlassen – eine legale Auswanderung war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Mit Hilfe von US-amerikanischen Wissenschaftlern siedelte er in die USA um, wo er eine Position am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge erhielt. Nach 15 Jahren, im Jahr 1992, wechselte er an das California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena, USA, wo er jetzt Smits Professor für Zellbiologie ist. Varshavsky ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und der U.S. National Academy of Sciences. Er hat eine Reihe großer Wissenschaftspreise verliehen bekommen, darunter den Gairdner International Award, den Lasker Award in Medical Research, den Max-Planck-Preis, den Albany Prize, und den Breakthrough Prize in Life Sciences.

Heinrich-Wieland-Prize – die Auszeichnung
Mit dem Heinrich-Wieland-Preis zeichnet die Boehringer Ingelheim Stiftung weltweit herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre bahnbrechende Forschung zur Chemie, Biochemie und Physiologie biologisch aktiver Moleküle und Systeme sowie deren klinische Bedeutung aus. Der mit 100.000 Euro dotierte Preis ist nach dem Chemiker und Nobelpreisträger Heinrich Otto Wieland (1877–1957) benannt und wird seit 1964 jährlich vergeben. Unter seinen Laureaten, die von einem wissenschaftlichen Kuratorium ausgewählt werden, sind vier spätere Nobelpreisträger. Seit 2011 wird der Preis von der Boehringer Ingelheim Stiftung dotiert.
www.heinrich-wieland-preis.de

Boehringer Ingelheim Stiftung
Die Boehringer Ingelheim Stiftung ist eine rechtlich selbstständige, gemeinnützige Stiftung und fördert die medizinische, biologische, chemische und pharmazeutische Wissenschaft. Errichtet wurde sie 1977 von Hubertus Liebrecht, einem Mitglied der Gesellschafterfamilie des Unternehmens Boehringer Ingelheim. Mit ihrem Perspektiven-Programm „Plus 3“ und den „Exploration Grants“ fördert sie bundesweit exzellente unabhängige Nachwuchsforschergruppen. Außerdem dotiert sie Preise für Nachwuchswissenschaftler und fördert für zehn Jahre den wissenschaftlichen Betrieb des Instituts für Molekulare Biologie (IMB) an der Universität Mainz mit 100 Millionen Euro. Seit 2013 fördert sie ebenfalls über zehn Jahre die Lebenswissenschaften an der Universität Mainz mit insgesamt 50 Millionen Euro.
www.boehringer-ingelheim-stiftung.de

Alexander Varshavsky und Ubiquitin – wie alles begann
Alexander Varshavsky interessiert sich bereits seit 1977 für Ubiquitin. Zu diesem Zeitpunkt hatte man Ubiquitin in allen untersuchten Zellen nachgewiesen, wusste aber nichts über seine Funktion. Varshavsky hat zunächst erforscht, wie es mit Chromosomen, den Verpackungseinheiten des Erbguts, interagiert. Anfang der 1980er fanden Forscher um Avram Hershko in Israel Hinweise, dass zumindest im Reagenzglas Ubiquitin am Abbau von Proteinen beteiligt ist. Zusammen mit seinen eigenen Ergebnissen deutete dies für Varshavsky auf ein regulatorisches System von großer Komplexität und weitreichenden, noch unentdeckten biologischen Funktion, so dass er beschloss, genetische Ansätze für das gesamte Problem zu finden, da ein solch komplexes System nicht durch Biochemie alleine verstanden werden könne.

Den ersten genetischen Ansatz um das Ubiquitin-System in lebenden Zellen zu untersuchen, fand er in Form von mutierten Mauszellen, den sogenannten ts85-Zellen. Der Zusatz ts steht für Temperatur empfindlich, da diese Zellen bei höheren Temperaturen nicht wachsen und sich nicht teilen können. Im Jahr 1984 fanden Varshavsky und sein Team heraus, dass diese Zellen eine mutierte Form des E1-Enzyms enthalten, das bei höheren Temperaturen nicht funktioniert, und denen so ein essentieller Schritt zum Anheften von Ubiquitin fehlt. Außerdem zeigte sich, dass diese Zellen ohne funktionierendes E1 auch den Großteil ihrer Proteine nicht abbauen konnten.
Dies war der erste und gleichzeitig entscheidende Beweis, dass das Anheften von Ubiquitin für den Abbau von Proteinen notwendig ist. In weiteren genetischen und biochemischen Studien hat Varshavsky spezifische Funktionen des Ubiquitin-Systems aufgedeckt, so zum Beispiel seine essentielle Rolle im Zyklus von Zellwachstum und -teilung, der Reparatur des Erbgutes, der Antwort der Zelle auf Stress und dem An- und Abschalten von Genen.

Nach über 30 Jahren und vielen Entdeckungen von Varshavsky und anderen auf diesem Gebiet, ist das Ubiquitin-System weiterhin ein wichtiges, wachsendes und hochdynamisches Forschungsfeld der modernen Biomedizin.

http://www.boehringer-ingelheim-stiftung.de – Webseite der Stiftung
http://www.heinrich-wieland-preis.de – Webseite des Preises
http://www.bbe.caltech.edu/content/alexander-j-varshavsky – Webseite des Preisträgers

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Kirsten Achenbach idw - Informationsdienst Wissenschaft

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