Der virtuelle Krebspatient

Im Labor: Professor Heinz Koeppl (li.) und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Jascha Diemer. Bild: Katrin Binner

An der Schnittstelle zwischen Biologie und Algorithmen: Professor Heinz Koeppl und seine Mitarbeiter entwickeln Computermodelle für die personalisierte Medizin.

Krebs ist nicht gleich Krebs. Jede Leukämie hat ihre Besonderheiten, jeder Tumorpatient eine einzigartige Erkrankung. Der Grund: Krebszellen sind entartete Körperzellen, deren Wachstum durch diverse Genveränderungen außer Kontrolle geraten ist. Diese Mutationen variieren selbst unter Patienten, die an der gleichen Krebsart leiden. Sogar Zellen innerhalb eines Tumors können sich genetisch unterscheiden.

Die Genveränderungen beeinflussen aber nicht nur das Wachstum der kranken Zellen, sondern auch deren Ansprache auf eine Behandlung. „Bei einer herkömmlichen Therapie dreht man daher oft an Stellschrauben, die für einen spezifischen Patienten keinen Effekt haben“, sagt Heinz Koeppl, Professor am Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik und Zweitmitglied im Fachbereich Biologie.

Bislang verläuft nur jede vierte Krebstherapie erfolgreich – unter den Nebenwirkungen leiden die Patienten trotzdem. Die Vision von Koeppl und seinen Mitarbeitern: Zukünftig soll sich vorab abschätzen lassen, ob eine bestimmte Therapie einer erkrankten Person überhaupt helfen kann. Dafür entwickeln die Wissenschaftler Computermodelle, quasi virtuelle Patienten, die sie aus Gen­ und Protein­Daten der Krebszellen, aus Ergebnissen von Zellversuchen im Labor, aus histologischen Befunden, anderen klinischen Untersuchungen sowie vielen weiteren Informationen konstruieren.

Die Darmstädter Forschungsarbeiten sind eingebunden in zwei EU-Projekte: Das internationale Verbundvorhaben PrECISE, das nunmehr endet, hat sich auf Prostata-Krebs konzentriert. Im Februar 2019 startet das iPC­Projekt, das sich mit häufigen Krebsleiden von Kindern beschäftigt.

Für einige Krebstypen gibt es bereits grobe Netzwerkmodelle und Datenbanken, die Zellprozesse, beispielsweise Signalkaskaden und katalytische Aktivitäten von Proteinen, beschreiben. Dieses Netzwerkskelett verfeinern die Forscher, indem sie aktuelle krankheits­ und patientenspezifische Informationen integrieren.

Die Kunst liege darin, Algorithmen zu finden, die das vorhandene Wissen korrekt an die neuen molekularen Daten anpassen, erklärt Koeppl. Es sei extrem wichtig, das Detailwissen in den Köpfen von Biologen und Biochemikern in die Modelle miteinzubeziehen: „Rein datengetriebene Verfahren der Künstlichen Intelligenz sind hier nicht zielführend.“

 

Netzwerk der molekularen Wechselwirkungen

Der virtuelle Patient bildet das Netzwerk der molekularen Wechselwirkungen in den Krebszellen ab. Wollen die Forscher ein Medikament testen, das ein bestimmtes Protein hemmt, müssen sie in ihrem Computermodell nur die Aktivität dieses Proteins verringern oder ausschalten. Sie sehen dann die Auswirkungen auf das gesamte Netzwerk und somit auf die Krebszellen. Wird der gewünschte Signalpfad deaktiviert? Vermehren sich die Zellen jetzt langsamer? Sterben sie gar ab? Oder ist der Effekt vernachlässigbar?

„Wenn man verschiedene Wirkstoffe am Netzwerkmodell durchspielt, kann man einem Patienten die beste verfügbare Therapie vorschlagen. Das ist die Idee der personalisierten Medizin“, sagt Koeppl. Immuntherapien und andere neue Behandlungsmethoden lassen sich ebenfalls mit solchen Modellen testen. Im PrECISE­Projekt wurde die Wirkung bestimmter Anti-Krebs-Mittel bereits am Computer abgeschätzt. „Die aktuellen Ergebnisse stimmen zumindest gut mit Daten aus Krebszelllinien überein“, sagt Koeppl. Das lässt hoffen, auch wenn bis zur klinischen Anwendung noch Jahre vergehen werden.

Uta Neubauer

Das iPC-Projekt

Das von der EU geförderte Projekt „individualizedPaediatricCure: Cloud-based virtual-patient models for precision paediatric oncology“, kurz iPC, startet im Februar 2019 mit einer Laufzeit von vier Jahren. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von Computermodellen für die personalisierte Therapie von zwei verschiedenen Leukämiearten, Neuroblastomen und spezielle Formen von Knochen-, Leber- und Hirntumoren, die im Kindesalter auftreten.

Das Gesamtbudget beträgt 14,8 Millionen Euro, wovon die Gruppe um Professor Heinz Koeppl aus dem Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik der TU Darmstadt 725.000 Euro erhält. An dem Konsortium beteiligen sich 21 Partner aus neun europäischen Ländern, den USA und Australien, darunter neben Forschungsinstituten auch Kliniken und Unternehmen.

Das Projekt stärkt den neuen Themenschwerpunkt Biomedizintechnik am Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik. Koeppl erwartet zudem einen regen Austausch mit dem neu gegründeten Frankfurt Cancer Institute, einem vom Land Hessen geförderten LOEWE-Zentrum, an dem sich die Goethe-Universität Frankfurt beteiligt. Über die strategische Allianz der Rhein-Main-Universitäten kooperiert die TU Darmstadt eng mit der Goethe-Universität.

Aktuelle Publikation

D. Linzner und H. Koeppl, Cluster Variational Approximations for Structure Learning of Continuous-Time Bayesian Networks from Incomplete Data, Advances in Neural Information Processing Systems (NIPS), 2018

 

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Bioinspired Communication Systems
Professor Dr. Heinz Koeppl
Fachbereich Elektrotechnik und Informationstechnik
Tel.: 06151/16-57235
E-Mail: heinz.koeppl@bcs.tu-darmstadt.de

Weitere Informationen:

https://www.tu-darmstadt.de/vorbeischauen/aktuell/einzelansicht_218240.de.jsp

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Uta Neubauer idw - Informationsdienst Wissenschaft

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