Europas biologischer Vielfalt auf der Spur

Eine der Arten, zu denen nun ebenfalls erstmalig ein qualitativ hochwertiges Referenzgenom vorliegt, ist der Seeadler (Haliaeetus albicilla).
(c) Leibniz-IZW/Oliver Krone

Forschende aus 33 Ländern erstellen Referenzgenome von 98 Arten.

Wissenschaftler:innen aus ganz Europa ist es im Rahmen des Pilotprojekts des European Reference Genome Atlas (ERGA) gelungen, hochwertige Referenzgenome für 98 Arten zu erstellen. Dies ist ein wichtiger Meilenstein in ihrem Vorhaben, eine Referenzgenom-Datenbank für alle europäischen Tiere, Pflanzen und Pilze zu schaffen. Die ehemalige ERGA-Vorsitzende Dr. Camila Mazzoni vom Leibniz-IZW initiierte das Pilotprojekt im Jahr 2021 als dezentrales Kooperationsprojekt mit dem Input aller Genomforschenden in Europa. Dieses neuartige, integrative Vorgehen zeigt, welche Herausforderungen und welche Chancen mit einem solchen Gemeinschaftsprojekt in der Biodiversitätsgenomik verbunden sind.

Das Pilotprojekt wird in einem heute in der Fachzeitschrift „npj Biodiversity“ veröffentlichten Artikel vorgestellt. In der neuen wissenschaftlichen Veröffentlichung gibt der European Reference Genome Atlas (ERGA) den Erfolg seines Pilotprojekts bekannt. ERGA baute ein großes Kooperationsnetzwerk von Wissenschaftler:innen und Institutionen aus 33 Ländern auf, um hochwertige Referenzgenome von 98 europäischen Arten zu erstellen. Das Pilotprojekt brachte wertvolle Erkenntnisse und zeigte die wichtigsten Herausforderungen für ein solches Vorhaben auf, sodass es als Modell für dezentrale, integrative und gleichberechtigte Initiativen in der Biodiversitätsgenomik auf der ganzen Welt dienen kann.

Zu den Meilensteinen des Projekts gehören die ersten Genom-Assemblierungen auf Chromosomenebene – bei diesem Vorgang werden die Nukleotidsequenzen in die richtige Reihenfolge gebracht – von Arten aus Griechenland, einem der Länder mit der größten biologischen Vielfalt in Europa. Arten wie die Kreta-Mauereidechse (Podarcis cretensis) und der Aristoteles-Wels (Silurus aristotelis) wurden von einheimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Griechenland beprobt, um Genome zu erstellen, die nun für jedermann auf der ganzen Welt frei zugänglich sind und untersucht werden können. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, was erreicht werden kann, wenn sich eine internationale Gemeinschaft von Forschenden zur biologischen Vielfalt zusammenschließt und die Zusammenarbeit innerhalb von und zwischen Ländern fördert. Das ERGA-Pilotprojekt legte den Schwerpunkt auf Gleichberechtigung und Inklusion – mit dem Ziel, dass die Genomforschung und die dafür notwendigen Ressourcen für alle zugänglich sind, unabhängig von geografischen Grenzen. Für viele der teilnehmenden Wissenschaftler:innen und Länder bot das Projekt zum ersten Mal die Möglichkeit, aktiv an der Erstellung von Referenzgenomen mitzuwirken und hochmoderne Ressourcen zur „Kartierung“ ihrer heimischen biologischen Vielfalt zu nutzen.

Das ERGA-Pilotprojekt trägt zudem dazu bei, die wachsende Bedeutung der Genomforschung für die biologischen Vielfalt in Europa und darüber hinaus zu verdeutlichen. Genomische Daten bergen ein immenses Potenzial für Erhaltungsmaßnahmen für gefährdete Arten, aber auch für Entdeckungen zum Vorteil für die menschliche Gesundheit, Bioökonomie, Biosicherheit und für viele andere Anwendungen. Zu den im Rahmen des Projekts sequenzierten Arten gehört zum Beispiel der Goldlachs (Argentina silus), eine kommerziell wichtige Fischart aus dem Nordatlantik. Das neue Referenzgenom des Goldlachses wird es Forschenden ermöglichen, den genetischen Status von Populationen dieser Art genauer zu bewerten und letztendlich Managemententscheidungen zu treffen, die verantwortungsvolle und nachhaltige Fischereipraktiken sicherstellen.

Eine der Arten, zu denen nun ebenfalls erstmalig ein qualitativ hochwertiges Referenzgenom vorliegt, ist der Seeadler (Haliaeetus albicilla). Mit diesem Referenzgenom wird zukünftig beispielsweise möglich sein, Erbkrankheiten zu erforschen, für die bislang nur die Symptome bekannt sind. Dies gelte insbesondere für das so genannte „pinching-off syndrome“, so Greifvogel-Experte Dr. Oliver Krone vom Leibniz-IZW. Bei dieser Krankheit sind die Schwung- und Steuerfedern junger Seeadler missgebildet und machen das Fliegen unmöglich. Die Ursachen für diese Missbildung der Federn ist genetisch bedingt und wird in einem rezessiven Erbgang von beiden Elternvögel an die Jungvögel weitergegeben. Darüber hinaus gebe es viele Möglichkeiten, das Genom der Adler für phylogenetische Fragestellungen zu nutzen, so Krone weiter. Beispielsweise könnten Subpopulationen voneinander abgegrenzt oder isolierte Populationen identifiziert werden.

Überall auf der Welt gibt es ambitionierte Bestrebungen, das volle Potenzial von Genomdaten zu erschließen. Dabei spielt Vernetzung innerhalb der Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Das ERGA- Pilotprojekt demonstriert, wie solche Kooperationsprojekte erfolgreich funktionieren und handfeste Vorteile für die biologische Vielfalt bringen können. Darüber hinaus hilft das etablierte Netzwerk Wissenschaftler:innen auf allen Karrierestufen, Möglichkeiten für die Weiterbildung, Partnerschaften und Finanzierung zu finden und auszutauschen. Das ERGA-Pilotprojekt wurde Anfang 2021 von der damaligen ERGA-Vorsitzenden Dr. Camila Mazzoni vom Leibniz-IZW und dem Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv) mitinitiiert, die Calls mit hunderten Genomforschenden leitete, um das inklusiv und dezentral organisierte Kooperationsprojekt zu planen und aufzubauen.

ERGA ist der europäische Knoten des global aufgestellten Earth BioGenome Project (EBP). Um sein ehrgeiziges Ziel – die Sequenzierung des gesamten eukaryotischen Lebens auf der Erde – zu erreichen, braucht das EBP unbedingt eine weltweite Beteiligung und neue, dezentrale Modelle der Erstellung von Referenzgenomen. Das ERGA-Pilotprojekt konnte zeigen, dass ein vollständig verteiltes, kollaboratives und koordiniertes Modell der Genomerstellung nicht nur machbar, sondern auch effektiv ist – selbst auf kontinentaler Ebene und ohne eine zentrale Finanzierungsquelle. Der größte Teil des Projektbudgets wurde von einzelnen Mitgliedern und Partnerinstitutionen vor Ort aufgebracht, mit zusätzlicher Unterstützung durch Sequenzierungspartner und kommerzielle Sequenzierungsunternehmen, die Zuschüsse, Rabatte und Sachleistungen gewährten.

Das ERGA-Pilotprojekt trug dazu bei, die zahlreichen Herausforderungen bei der Arbeit auf internationaler Ebene zu ermitteln und Strategien für den Umgang mit diesen zu entwickeln. Zu den Herausforderungen gehören beispielsweise rechtliche und logistische Hürden des grenzüberschreitenden Transports biologischer Proben, Gefälle in der Ressourcenausstattung zwischen den Ländern und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Dezentralisierung und der Notwendigkeit der Standardisierung. Eine Standardisierung ist nötig um zu gewährleisten, dass im Rahmen des Projekts nur Referenzgenome erstellt werden, die den Qualitätsstandards des EBP entsprechen.

Der dezentralisierte Ansatz von ERGA ist vielversprechend für die Zukunft der Biodiversitätsgenomik. Der Erfolg des Pilotprojekts beim Aufbau einer Eigendynamik und der Zusammenführung von Forschern zeigt die Stärke dieses Modells, schließen die Beteiligten in dem Beitrag in der Fachzeitschrift. Durch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und die Konzentration auf Inklusion und Gleichberechtigung setze ERGA neue Maßstäbe für die Biodiversitätsgenomik. Die im Rahmen des Pilotprojekts gewonnenen Erkenntnisse und bewältigten Herausforderungen werden die Grundlage für künftige Bemühungen bilden, um robuste und standardisierte Arbeitsabläufe und eine umfassende genomische Datenbank für Arten in Europa und darüber hinaus zu fördern.

Zitate

“Das ERGA-Pilotprojekt hat gezeigt, wie wichtig eine gut vernetzte wissenschaftliche Gemeinschaft ist, die zur Zusammenarbeit bereit ist, um ein großes gemeinsames Ziel zu erreichen. Dieser Erfolg stellt einen wichtigen Meilenstein für ERGA dar und zeigt, dass eine solche Initiative sehr integrativ arbeiten kann, ohne die hohen Standards zu vernachlässigen, die das Earth BioGenome Project (EBP) für die Produktion von Referenzgenomen gesetzt hat. Das ERGA-Pilotprojekt ist sowohl ein Beispiel als auch ein Fahrplan für verteilte Bemühungen zum Aufbau von Referenzgenom-Ressourcen in ganz Europa und möglicherweise darüber hinaus.” Camila Mazzoni, ehemalige ERGA-Vorsitzende und Senior-Autorin des Fachaufsatzes – Leiterin der Arbeitsgruppe “Evolutions- und Naturschutzgenomik” in der Leibniz-IZW-Abteilung für Evolutionsgenetik.

“Mit dem ERGA-Pilotprojekt haben wir versucht, die Generierung hochwertiger Referenzgenome auf einen ganzen Kontinent auszudehnen. Ein Vorhaben dieser Größenordnung wurde nur durch die Verpflichtung auf die Grundsätze der Einbeziehung, Gleichberechtigung und Zusammenarbeit möglich sowie durch das Engagement der vielfältigen, transdisziplinären und sektorübergreifenden Teilnehmenden. Ich bin sehr glücklich, mit einer so erstaunlichen Gruppe von Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet zu haben, um den Aufbau einer Genomik-Enzyklopädie der europäischen Arten in Gang zu bringen.” Ann McCartney, Mitglied des ERGA Pilot Committee – Assistant Researcher University of California Santa Cruz, und adjunct Ass. Prof at University College Dublin.

“Als wir die Leitung dieses Projekts übernahmen, ahnten wir nicht, welches Ausmaß die Arbeit annehmen würde. Es war ein schwieriges Unterfangen, aber durch Beharrlichkeit und Teamarbeit ist es uns gelungen. Wir hatten auch die unschätzbare Unterstützung von Sequenzierungszentren, Universitäten und kommerziellen Unternehmen, die zum ERGA-Pilotprojekt beitrugen, indem sie Personal für die Erstellung von Bibliotheken, kostenlose Sequenzierung und Sachleistungen zur Verfügung stellten. Diese Erfahrung war wirklich einmalig.” Alice Mouton, Mitglied des ERGA Pilot Committee – former FNRS postdoctoral researcher, und scientific collaborator, University of Liege.

“ERGA war nur ein Traum, bis er keiner mehr war! Durch dieses Pilotprojekt ist die Aussicht, Europa unter der Flagge der Biodiversitätsgenomik zu vereinen, nun Realität. Wir können stolz darauf sein, dass wir als erste den Prozess in Gang gesetzt haben, durch den die Genome vieler Arten der wissenschaftlichen Gemeinschaft für die Erhaltung und darüber hinaus zur Verfügung stehen werden.” Giulio Formenti, Mitglied des ERGA Pilot Committee – Research Assistant Professor at the Rockefeller University.

“Das ERGA-Pilotprojekt ist ein bedeutender Meilenstein im Earth BioGenome Project (EBP) und ein großer Schritt nach vorn für die Biodiversitätsgenomik in Europa. Als erstes auf kontinentaler Ebene koordiniertes Biodiversitätsgenomprojekt hat ERGA zwei Grundprinzipien demonstriert, auf denen das EBP aufgebaut wurde – erstens, dass die Sequenzierungskapazitäten geografisch verteilt werden, und zweitens, dass jeglicher Nutzen aus den sequenzierten Genomen gerecht aufgeteilt werden würde. ERGA ist nun bereit, ihre Ziele zu erweitern und Tausende von Genomen zu sequenzieren, um die biologische Vielfalt in Europa zu erhalten und das Wachstum einer nachhaltigen Bioökonomie zu fördern.” Harris Lewin, Vorsitzender des EBP Executive Council – Research Professor at ASU.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Camila Mazzoni
Leiterin der Arbeitsgruppe “Evolutions- und Naturschutzgenomik”
The Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv)
Abteilung für Evolutionsgenetik, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
Telefon: +49(0)30 5168315 and +49(0)30 83859961
E-Mail: mazzoni@izw-berlin.de

Luísa Schlude Marins
ERGA Wissenschaftskommunikation
The Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv)
Abteilung für Evolutionsgenetik, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
Telefon: +49(0)30 83859960
E-Mail: schlude@izw-berlin.de

Originalpublikation:

McCartney AM, Formenti G, Mouton A, […], Mazzoni CJ (2024): The European Reference Genome Atlas: piloting a decentralised approach to equitable biodiversity genomics. Npj Biodiversity 3,28(2024). DOI: 10.1038/s44185-024-00054-6

http://www.izw-berlin.de/de/

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Jan Zwilling Wissenschaftskommunikation
Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.

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