Die Wirbelsäule ist das charakteristische und namensgebende Merkmal der Wirbeltiere. Allgemein versteht man die zugrundeliegenden Mechanismen der Entwicklung der Wirbelsäule während der Embryonalentwicklung und das Zusammenspiel mit der Evolution verschiedener Wirbeltier-Baupläne bereits recht gut, doch einige entscheidende Teile dieser Entwicklungsgeschichte blieben bisher rätselhaft.
Forschende des Museums für Naturkunde Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin fanden nun neue Puzzlesteine für die Komplettierung dieser Entwicklungsgeschichte. Dazu schaute sich Antoine Verrière, Paläontologe und Erstautor der Studie, die im Rahmen seiner Doktorarbeit am Museum durchgeführt wurde, zuerst außergewöhnlich gut erhaltene Fossilien des Reptils Mesosaurus tenuidens an. Mesosaurier waren die ersten Reptilien, die sich nach dem Landgang erneut an das Leben im Wasser angepasst haben. Mit ihrer langen Schnauze und kräftigen Schwimmschwänzen lebten Mesosaurier in einem Binnenmeer des Superkontinents Pangäa.
„Bei einigen jungen Exemplaren beobachteten wir, dass die Neuralbögen, d.h. die stachelartigen Fortsätze auf den Wirbeln, sich im Laufe des Wachstums der Tiere vom Kopf zum Schwanz hin schlossen, ähnlich wie bei einem Reißverschluss. Wir wollten verstehen, wie dieses Muster in die Evolutionsgeschichte der Landwirbeltiere passt, stellten aber schnell fest, dass es nur wenig Informationen darüber gab. Also beschlossen wir, dies selbst zu erforschen!“
Das Team untersuchte vier der wichtigsten Entwicklungsschritte in der Verknöcherung der Wirbelsäule:
- Die Verknöcherung des Wirbelzentrums, d.h. des Hauptkörpers eines Wirbels
- Die Verknöcherung der paarigen Neuralbögen
- Die Verschmelzung der zunächst paarig angelegten Neuralbogenelemente zu einem einzigen Element
- Die Verschmelzung der Neuralbögen mit dem Zentrum
Mit Hilfe statistischer Modelle konnten die Forschenden rekonstruieren, wie sich diese verschiedenen Muster im Laufe der rund 300 Millionen Jahre langen Evolutionsgeschichte der Landwirbeltiere veränderten und welches Entwicklungsmuster der gemeinsame Vorfahr aller Landwirbeltiere hatte.
„Am meisten überraschte uns, dass diese Muster in den letzten 300 Millionen Jahren relativ stabil waren“, so Mitautor Prof. Jörg Fröbisch. „Lebende und ausgestorbene vierfüßige Wirbeltiere sind enorm vielfältig in Bezug auf ihre Körperformen und Lebensweisen. Die Elemente ihrer Wirbelsäulen sind in komplexen Einheiten organisiert, die sich zwischen den Gruppen innerhalb der vierfüßigen Wirbeltiere stark unterscheiden. Dennoch sind die Verknöcherungsmuster viel einheitlicher, als es die große morphologische Vielfalt erwarten lässt.“
Obwohl die untersuchten Muster während der gesamten Evolution relativ stabil waren, traten einige Abweichungen auf. Vor allem Vögel, Säugetiere und Schuppenkriechtiere (Echsen und Schlangen) entwickelten jeweils ihre eigenen spezifischen Formen der Wirbelverknöcherung. Innerhalb dieser Gruppen waren die Muster wieder erstaunlich stabil.
„Strauße und Möwen zum Beispiel haben eine sehr unterschiedliche Anatomie und Lebensweise, aber ihre Wirbelsäulen verknöchern auf ähnliche Weise. Dies zeigt, dass zwischen den Hauptlinien der Landwirbeltiere einige Veränderungen zu beobachten sind, aber innerhalb jeder der Hauptlinien die Wirbelsäulenentwicklung wiederum ziemlich stabil blieb“, so Mitautorin Prof. Nadia Fröbisch.
„Unsere Studie ist ein weiteres großartiges Beispiel dafür, wie Daten von Fossilien und modernen Tieren zusammengeführt werden können, um ein viel tieferes Bild von der Entwicklung und Evolution der wichtigsten Körperstrukturen zu erhalten“, sagt Antoine Verrière.
Publiziert in:
Verrière A., N.B. Fröbisch und J. Fröbisch (2022) Regionalization, constraints, and the ancestral ossification patterns in the vertebral column of amniotes. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-022-24983-z.