Gefangen von Enzymen

The slow-moving ships on the open sea serve to illustrate the limited cAMP dynamics. The whirlpools represent cAMP nanodomains around PDEs.
Credit: Charlotte Konrad, MDC

Ein Team am MDC hat eine rund vierzig Jahre alte Forschungsfrage gelöst. Im Fachblatt „Cell“ erläutert die Gruppe, wie es Zellen gelingt, mit nur einem Botenstoff, dem Molekül cAMP, ganz unterschiedliche Signalwege anzuschalten: Er wird dazu in nanometergroßen Räumen quasi inhaftiert.

Auf der Oberfläche jeder Zelle des menschlichen Körpers sitzen bis zu hundert verschiedene Antennen: Rezeptoren, mit denen die Zelle Signale von außen empfängt und diese dann in ihr Inneres weiterleitet. Solche Signale können zum Beispiel in Form von Sinneswahrnehmungen, Neurotransmittern wie Dopamin oder Hormonen wie Insulin bei der Zelle eintreffen.

Einer der wichtigsten Botenstoffe, mit denen die Zelle solche Reize in ihrem Inneren weiterleitet und dann entsprechende Signalwege anschaltet, ist ein kleines Molekül namens cAMP. Es wurde in den 1950er-Jahren entdeckt. Bislang ging man aufgrund experimenteller Beobachtungen davon aus, dass cAMP in der Zelle frei diffundiert, seine Konzentration also überall in der Zelle annähernd gleich ist – und ein Signal deswegen eigentlich die gesamte Zelle erfassen müsste.

„Seit Anfang der 1980-er Jahre wusste man allerdings, dass zum Beispiel zwei verschiedene Rezeptoren von Herzzellen beim Empfang eines äußeren Signals exakt die gleichen Mengen cAMP freisetzen, dies aber in der Zelle zu ganz unterschiedlichen Effekten führt“, berichtet Dr. Andreas Bock. Gemeinsam mit Dr. Paolo Annibale leitet er kommissarisch die Arbeitsgruppe „Signalprozesse von Rezeptoren“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) in Berlin.

Wie Löcher in einem Schweizer Käse

Diesen scheinbaren Widerspruch, der die Wissenschaft seit nunmehr fast vierzig Jahren beschäftigt, haben Bock und Annibale, die beiden Erstautoren der Studie, aufgelöst. Wie das Team im Fachblatt „Cell“ berichtet, kann sich das meiste cAMP entgegen früherer Annahmen nicht frei in der Zelle bewegen, sondern ist an Proteine gebunden, vor allem an Proteinkinasen. Neben den drei Wissenschaftlern waren an der Arbeit auch Professor Martin Falcke vom MDC und weitere Forschende aus Berlin, Würzburg und Minneapolis beteiligt.

„Durch die Bindung an die Proteine ist die Konzentration an freiem cAMP in der Zelle sehr niedrig“, sagt Professor Martin Lohse, früherer Arbeitsgruppenleiter am MDC und Letztautor der Studie. „Dadurch haben die eher langsamen cAMP-abbauenden Enzyme, die Phosphodiesterasen (PDE), genügend Zeit, um nanometergroße Kompartimente um sich herum zu bilden, die nahezu frei von cAMP sind.“ In diesen winzigen Räumen werde der Botenstoff jeweils separat reguliert. „Das ermöglicht es Zellen, in sehr vielen solcher Räume jeweils unterschiedliche Rezeptorsignale gleichzeitig zu verarbeiten“, erläutert Lohse. Zeigen konnten das die Forscher unter anderem am Beispiel der cAMP-abhängigen Proteinkinase A, für deren Aktivierung in verschiedenen Kompartimenten unterschiedliche cAMP-Mengen erforderlich waren.

„Man kann sich diese leergeräumten Kompartimente wie die Löcher eines Schweizer Käses vorstellen – oder auch wie winzige Gefängnisse, in denen die eigentlich eher langsam arbeitende PDE darüber wacht, dass das viel schnellere cAMP nicht ausbricht und unbeabsichtigte Effekte in der Zelle erzielt“, erklärt Annibale. „Ist der Täter erst eingesperrt, muss die Polizei nicht mehr rennen.“

Mit nanometergroßen Linealen

Erkannt hat das Team die Bewegungen des Botenstoffes in der Zelle mit fluoreszierenden cAMP-Molekülen und speziellen Methoden der Fluoreszenzspektroskopie, unter anderem Fluktuationsspektroskopie und Anisotropie, die Annibale für die Studie weiterentwickelt hat. Sogenannte Nanoruler haben der Gruppe dabei geholfen, die Größe der Löcher, in denen das cAMP jeweils spezifische Signalwege anschaltet, zu vermessen. „Dabei handelt es sich um ausgestreckte Proteine, die wir wie ein winziges Lineal benutzen konnten“, erklärt Bock, der die Nanoruler erfunden hat.

Die Messungen des Teams haben ergeben, dass die meisten Kompartimente tatsächlich kleiner als zehn Nanometer – also zehn millionstel Millimeter – sind. Auf diese Weise gewinnt die Zelle Tausende voneinander getrennter Räume, in denen sie cAMP separat reguliert und dadurch vor unbeabsichtigten Effekten des Botenstoffes geschützt ist. „Wir konnten zeigen, dass ein bestimmter Signalweg in einem nahezu cAMP-freien Loch zunächst unterbrochen war“, berichtet Annibale. „Doch wenn wir die PDE, die diese Löcher schafft, gehemmt haben, lief der Signalweg weiter.“

Kein Schalter, sondern ein Chip

„Die Zelle agiert folglich nicht wie ein einzelner An/Aus-Schalter, sondern eher wie ein ganzer Chip, der Tausende solcher Schalter enthält“, fasst Martin Lohse die Erkenntnisse der Arbeit zusammen. „Es war ein Fehler in der Vergangenheit, dass bei solchen Experimenten mit viel zu hohen cAMP-Konzentrationen gearbeitet wurde – sodass tatsächlich große Mengen des Botenstoffes in der Zelle frei diffundierten, weil alle Bindungsplätze belegt waren.“

Als nächstes wollen die Forschenden nun die Architektur der cAMP-Gefängnisse weiter untersuchen und herausfinden, welche PDE jeweils welche Signalproteine schützen. Künftig könnte auch die medizinische Forschung von ihren Erkenntnissen profitieren. „Viele Medikamente verändern Signalwege innerhalb der Zelle“, sagt Lohse. „Durch die von uns entdeckte Kompartimentierung der Zelle wissen wir nun, dass es sehr, sehr viele mögliche Angriffspunkte gibt, nach denen man jetzt suchen kann.“

„Eine zeitgleich mit unserer Publikation veröffentlichte Studie in ‚Cell’ aus San Diego zeigt zudem, dass Zellen zu wuchern beginnen, wenn ihre einzelnen Signalwege nicht mehr räumlich voneinander getrennt reguliert werden“, ergänzt Bock. Darüber hinaus wisse man, dass beispielsweise bei Herzinsuffizienz die Verteilung der cAMP-Konzentration in den Herzzellen verändert sei. Somit liefere ihre Arbeit sowohl der Krebs- als auch der Herz-Kreislauf-Forschung neue Grundlagen.

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Es ist nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Max Delbrück benannt, dem 1969 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen wurde. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und sie besser zu diagnostizieren, verhüten und wirksam bekämpfen zu können. Dabei kooperiert das MDC mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH ) sowie mit nationalen Partnern, z.B. dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DHZK), und zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC arbeiten mehr als 1.600 Beschäftigte und Gäste aus nahezu 60 Ländern; davon sind fast 1.300 in der Wissenschaft tätig. Es wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren. www.mdc-berlin.de

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Andreas Bock
Co-Leiter der Arbeitsgruppe „Signalprozesse von Rezeptoren“
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
+49 (0)30 9406 1745
Andreas.Bock@mdc-berlin.de

Professor Martin Lohse
ISAR Bioscience Institute, München
Martin.Lohse@isarbioscience.de

Originalpublikation:

Bock, Andreas & Annibale, Paolo et al. (2020): „Optical mapping of cAMP signaling at the nanometer scale“; Cell, DOI: 10.1016/j.cell.2020.07.035

Weitere Informationen:

https://www.mdc-berlin.de/de/news/press/gefangen-von-enzymen Pressemitteilung auf der MDC-Website
https://www.mdc-berlin.de/de/receptor-signaling AG Signalprozesse von Rezeptoren
https://www.mdc-berlin.de/de/news/news/zuschlag-fuer-neue-forschungsprojekte Zuschlag für neue Forschungsprojekte

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Christina Anders Kommunikation
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