Humane embryonale Stammzellen in der Forschung
Heutzutage werden weltweit humane embryonale Stammzell-Linien in der Forschung genutzt, die eigentlich als veraltet angesehen werden. Aber warum eigentlich?
Die Schuldigen waren in der Vergangenheit schnell ausgemacht: eine restriktive Forschungsförderung in den USA unter der Bush-Regierung und eine weltweit teils starke Regulierung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen schienen gravierend die Nutzung neuer Zell-Linien zu hemmen.
In ihrer aktuellen Studie ist es Forscherinnen und Forschern der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule Aachen (RWTH), des Robert Koch-Instituts (RKI) in Berlin sowie der Universität Southampton gelungen, die tatsächlichen Ursachen für die Verwendung nur weniger Stammzell-Linien aufzudecken. Ihre Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift PLOS ONE (Ausgabe 2.1.2013) veröffentlicht.
Zurzeit existieren weltweit mehr als 1.600 humane embryonale Stammzell-Linien. In mehr als 50 Prozent aller international publizierten wissenschaftlichen Studien werden jedoch nur drei dieser Zell-Linien genutzt, und diese wurden bereits 1998 als erste Stammzell-Linien überhaupt veröffentlicht; in den USA beziehen sich sogar über 70 Prozent der Studien auf diese „Pioniere“.
Dass diese Häufung nicht maßgeblich auf das Eingreifen der Politik zurückzuführen ist, machen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der jetzt veröffentlichten Studie mithilfe eines einfachen mathematischen Modells deutlich: „Wir haben zirka 2.400 Original-Veröffentlichungen mit humanen embryonalen Stammzellen analysiert und konnten daraus ableiten, dass die Verwendung von Stammzellen in der akademischen Forschung durch das sogenannte ‚Matthäus Prinzip’ erklärt werden kann“, sagt Dr. Franz-Josef Müller von der CAU, einer der verantwortlichen Autoren der Studie. Das Matthäus-Prinzip bedeutet: „Wer viel hat, dem wird auch viel gegeben“. In seiner mathematischen Form sei dies auch auf die Nutzung von Stammzellen anwendbar.
Die wiederholte Nutzung bestimmter Stammzell-Linien ist demnach vor allem die Folge von wissenschaftlichen Kollaborationsprozessen. Dabei können neue Zell-Linien zwar für einzelne wissenschaftliche Fragestellungen höchst relevant sein, jedoch bevorzugen die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Fragen der Grundlagenforschung die wenigen „alten“, gut charakterisierten und leicht verfügbaren Stammzell-Linien.
Unter Annahme nur weniger, einfacher und realitätsnaher Voraussetzungen konnten die Autorinnen und Autoren ein Modell erstellen, das diese weltweite Nutzung von humanen embryonalen Stammzellen vorhersagen konnte. Dieses Modell kann die fortwährende Nutzung nur weniger alter Zell-Linien trotz der heute stark liberalisierten politischen Rahmenbedingungen erklären.
Koautor Professor Andreas Schuppert der RWTH Aachen ergänzt: „Die Nutzung humaner embryonaler Stammzellen ist nach unseren Erkenntnissen das Ergebnis einer hochvernetzten Wissenschaftskultur und folgt Mechanismen, wie sie beispielsweise auch für das Internet, für bestimmte wirtschaftliche Prozesse oder für soziale Netzwerke wie ‚Facebook’ beschrieben wurden.“
Die Ergebnisse seien deshalb von forschungspolitischer Relevanz. Sie legen nahe, dass die benannten politischen Vorgaben die Nutzung bestimmter Stammzell-Linien kaum beeinflusst haben dürften. „Die Wissenschaftler nutzen offenbar vor allem gut charakterisierte alte Linien für ihre Forschungen, so dass es eher nicht zu der in der deutschen Diskussion immer wieder unterstellten ständigen Nachfrage nach immer neuen Linien durch die Wissenschaft kommt“, sagt Müller. Allerdings erfordern spezifische Fragestellungen auch neuere Linien, die in Deutschland aber wegen der derzeit bestehenden Regelung nicht genutzt werden können. „Dies betrifft beispielsweise die 2010 publizierten Linien des Whitehead-Instituts in Boston, die aufgrund besonderer Eigenschaften für die Grundlagenforschung außerordentlich interessant wären.“
Originalpublikation
„Power laws and the use embryonic stem cell lines“; Bernhard Schuldt, Anke Guhr, Michael Lenz, Sabine Kobold, Ben MacArthur, Andreas Schuppert, Peter Löser und Franz-Josef Müller; PLOS ONE http://dx.plos.org/10.1371/journal.pone.0052068
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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