Kartierung neuronaler Schaltkreise im sich entwickelnden Gehirn
Wie kann man neuronale Netze aufbauen, die komplexer sind als alles, was uns bis heute bekannt ist? Forscher am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main haben die Entwicklung von inhibitorischen neuronalen Schaltkreisen kartiert und berichten von mehreren sehr präzisen Konstruktionsprinzipien beim Aufbau der neuronalen Netzwerke. Ihre Ergebnisse ermöglichen die Veränderung der neuronalen Netzwerkstruktur mit der Zeit zu verfolgen und in Momenten festzuhalten, in denen ein Individuum wächst und sich an seine Umgebung anpasst.
Die Komplexität der neuronalen Netzwerke in unseren und den Gehirnen von Tieren wird von Forscherinnen und Forschern immer besser verstanden. Aber wie können solche präzisen und verschachtelten neuronalen Schaltkreise überhaupt erst gebildet werden? Wir wissen heute, wie Neuronen geboren werden, zu ihrem Ort in der grauen Substanz wandern, wie sie wachsen und sich differenzieren. Aber wie und nach welchen Regeln entfalten sich, oft an hochpräzisen Stellen im Gehirn, die Billionen von Synapsen, die ausgeklügelten Kontaktstellen, über die Neurone miteinander kommunizieren und die neuronalen Schaltkreise formen?
In der heute in Science veröffentlichten Studie analysierte ein Team um Max-Planck-Direktor Moritz Helmstaedter insgesamt dreizehn dreidimensionale Datensätze aus dem Kortex von Mäusen in verschiedenen Entwicklungsstadien: nach der Geburt, zu Zeitpunkten, die mit denen von Babys, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vergleichbar sind. Sie benutzten Methoden aus der „Konnektomik“, um die neuronalen Schaltkreise in der grauen Substanz der Hirnrinde, in der die meisten Synapsen des Großhirns liegen, abzubilden. Sie fokussierten sich auf die Synapsen einer bestimmten Art von Nervenzellen, den Interneuronen, von denen bekannt ist, dass sie die Aktivität anderer Neuronen auf hochspezifische Weise hemmen. Dabei konnten die Forscher die Entwicklung der synaptischen „Partnerwahl“ für diese besondere Arten von Nervenzellen verfolgen.
„Überraschenderweise folgten verschiedene Arten von Interneuronen sehr unterschiedlichen Zeitverläufen bei Ihrer ‚Partnerwahl‘. Einige Interneurone vernetzten sich mit ihren synaptischen Partnern bereits in den frühesten Stadien der untersuchten Schaltkreise (entsprechend den Gehirnen von Babys), mit einer Präferenz, die der synaptischen Vorliebe in Schaltkreisen von Erwachsenen ähnelt. Dies geschah als die ersten chemischen Synapsen in der grauen Substanz des Kortex gebildet wurden. Andere Interneurone zeigten starke Verbesserungen bei der Ziel- und Partnerwahl, die höchstwahrscheinlich durch die Entfernung falsch platzierter Synapsen verursacht wurden“, erklärt Anjali Gour, Doktorandin in der Abteilung und Erstautorin dieser Studie.
In früheren Studien war bereits gefunden worden, dass während der Gehirnentwicklung Synapsen nicht nur neu gebildet werden, sondern manche bestehenden Synapsen wieder vernichtet werden müssen. Die Erkenntnis, dass Synapseneliminierung (Englisch: „Pruning“) eine präzise und spezifische Funktion für die Bildung hemmender Schaltkreise leistet, war nun aber eine echte Überraschung. Die Forscher fanden auch heraus, dass eine wichtige Klasse von Interneuronen, die so genannten Kronleuchter-Neuronen (Englisch: „Chandelier neurons“), von denen angenommen wird, dass sie erst in der frühen Adoleszenz vollständig etabliert sind, eine viel frühere und systematischere Innervierung (Vernetzung) ihrer synaptischen Partnerstrukturen zeigen als bisher bekannt.
Diese Erkenntnisse waren möglich, obwohl die Kartierung von Konnektomen eine Schnappschuss-Technik ist: Neuronale Netzwerke können in Biopsien von Hirngewebe vermessen werden, können im selben Hirngewebe jedoch nicht über die Zeit weiterverfolgt werden. Vielmehr müssen viele Kartierungen von Proben aus verschiedenen Gehirnen durchgeführt werden. „Dass wir aus diesen Daten dennoch ein klares Entwicklungsprofil extrahieren konnten, zeigt die Informationsdichte, die in den konnektomischen Daten vorhanden ist“, sagt Gour. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir in Gehirnen, die sich noch in der Entwicklung befinden, so klare Schaltkreismuster finden würden“, fügt sie hinzu.
Man geht davon aus, dass Entwicklungsprozesse während der Bildung neuronaler Netzwerke und deren mögliche Störung wesentlich zu einigen der wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen beitragen. Inhibitorische Schaltkreise bilden einen besonderen Forschungsschwerpunkt bei der Erforschung dieser Funktionsstörungen. Daher ist ein genaues und detailliertes Verständnis der inhibitorischen Schaltkreise eine Voraussetzung für die gezielte Analyse und für mögliche Eingriffe in solche Krankheitszustände. „Wir hoffen, die normale und gestörte Netzwerkbildung in kortikalen Schaltkreisen viel genauer abbilden zu können, um mögliche Veränderungen bei psychiatrischen Erkrankungen zu verstehen und möglicherweise die Phänotypen von Konnektopathien zu identifizieren“, sagt Helmstaedter.
Die Erkenntnisse aus dieser Studie erlangten die Forscher durch den Einsatz des „connectomic screenings“, ermöglicht durch den inzwischen wesentlich höheren Durchsatz der Konnektomik-Methoden. „Wir erwarten, dass dieser Ansatz in der Zukunft ebenso weit verbreitet sein wird, wie das genetische Screening: die Untersuchung der Struktur neuronaler Netzwerke unter einer großen Bandbreite normaler und pathologischer Umstände, um die Veränderungen und Gemeinsamkeiten zu verstehen, die in Säugetiergehirnen zu finden sind“.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Moritz Helmstaedter
Direktor, Max-Planck-Institut für Hirnforschung
Frankfurt am Main
+49 69 850033 3001
mh@brain.mpg.de
Originalpublikation:
Anjali Gour, Kevin M. Boergens, Natalie Heike, Yunfeng Hua, Philip Laserstein, Kun Song, and Moritz Helmstaedter. Postnatal connectomic development of inhibition in mouse barrel cortex. Science, Online publication: December 3, 2020 DOI:http://science.sciencemag.org/lookup/doi/10.1126/science.abb4534. Cite as: Gour et al., Science 2020. DOI: 10.1126/science.abb4534
Weitere Informationen:
https://youtu.be/tVdkPvDa1JM PR Video (c) Gour et al., Science 2020. DOI: 10.1126/science.abb4534
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