Mehr Energie für rote Blutkörperchen
Der Wirkstoff Mitapivat zeigte in der internationalen Studie ACTIVAT mit Würzburger Beteiligung erstmals eine zielgerichtete, medikamentöse Therapie bei einer angeborenen hämatologischen Erkrankung wie dem Pyruvatkinase-Mangel.
„Unsere Patientinnen und Patienten haben geradezu dafür gebrannt, an der ACTIVATE-Studie teilzunehmen“, berichtet Privatdozent Dr. Oliver Andres, Oberarzt in der Kinderklinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg, Leiter der Studie in Würzburg und Koordinator für Deutschland. Das Leid mit einem Pyruvatkinase-Mangel sei so groß, da greifen die Betroffenen zu jedem Strohhalm, der ihnen Unterstützung geben könnte. Und das Medikament Mitapivat hat das Potential dazu, wie die Auswertungen der Studie zeigen, die kürzlich im international renommierten New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden (Al-Samkari H et al., NEJM 2022; doi: 10.1056/NEJMoa2116634).
Rote Blutkörperchen erreichen ihre normale Lebensdauer nicht
Der Pyruvatkinase-Mangel ist ein angeborener Enzymdefekt. Durch eine Mutation im PKLR-Gen – über 300 Mutationen allein auf diesem Gen sind inzwischen bekannt – kommt es zu einer Störung im Energiestoffwechsel der roten Blutkörperchen, der sogenannten Erythrozyten. „Diese schwellen an, verändern ihre Struktur und können sich nicht mehr verformen, was jedoch wichtig für den Blutfluss in den kleinsten Gefäßen und die Sauerstoffabgabe an das Gewebe ist“, erklärt der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Erythrozyten-Experte Oliver Andres am Mikroskop. „Der Defekt, der sich schon im Neugeborenenalter oder sogar vor der Geburt zeigen kann, verkürzt zudem die Lebensdauer der roten Blutkörperchen; sie werden frühzeitig in der Milz abgebaut.“ Die Folgen sind Gelbsucht und Blutarmut, in der Fachsprache als hämolytische Anämie bezeichnet. Durch die Blutarmut wird der Körper alarmiert; er lagert hierdurch und durch die vielen therapeutisch nötigen Bluttransfusionen vermehrt Eisen ein, was wiederum die Organe belastet und zu Funktionsstörungen führt. Die Erkrankung ist nur bei 3,5 bis 8,2 von einer Million Menschen sicher diagnostiziert, Oliver Andres geht neueren Schätzungen zufolge von einer deutlichen Dunkelziffer mit einer realen Häufigkeit in Mitteleuropa von bis zu einer Erkrankung auf 20.000 Einwohner aus. Der Pyruvatkinase-Mangel sei damit sicher unterdiagnostiziert.
Wirkstoff Mitapivat aktiviert das Enzym Pyruvatkinase
Bei den Betroffenen vergrößert sich die Milz, es drohen Gallensteine, Osteoporose, Blutgerinnsel und andere Begleiterscheinungen, sie fühlen sich chronisch müde und wenig belastbar. Die einzige Behandlung bestand bislang aus regelmäßigen Bluttransfusionen, einer Entfernung der Milz und aus Medikamenten, die das Zuviel an Eisen im Körper ausschleusen. Die Stammzelltransplantation mit einer Familien- oder Fremdspende ist Andres zufolge zu riskant, um als gängige Therapieoption zu dienen. Doch das Medikament Mitapivat macht nun Hoffnung und könnte für viele Betroffene ein Durchbruch in der Behandlung sein. Denn es verbessert die Aktivität der Pyruvatkinase in den Erythrozyten und macht die roten Blutkörperchen gewissermaßen wieder flexibel und fit.
Gezielte Therapie nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip
In der internationalen, randomisierten, doppelt verblindeten, placebo-kontrollierten Phase-III-Studie ACTIVATE zeigten die Patientinnen und Patienten, die ein halbes Jahr lang mit dem oral einzunehmenden Medikament Mitapivat behandelt wurden, eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität im Vergleich zu denen, die ein Placebo erhielten. In den ersten zwölf Wochen der Behandlung wurde die Dosis optimiert, einige Betroffene benötigten nur zweimal täglich 5 Milligramm, andere zweimal 20 oder gar 50 Milligramm. In weiteren zwölf Wochen wurde das Ansprechen beobachtet. „Einige konnten wieder Fahrrad fahren oder sogar joggen“, schildert der Oliver Andres die verbesserte Leistungsfähigkeit. Und 40 Prozent der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die Mitapivat erhielten, erreichten den vorab definierten primären Zielpunkt der Studie. Ihr Hämoglobinwert, ein indirektes Maß der Anzahl an roten Blutkörperchen, stieg um mindestens 1,5 g/dL (Gramm pro Deziliter).
„Das klingt für Laien möglicherweise nicht so beeindruckend“, meint Oliver Andres, der als Co-Autor an den Studienergebnissen beteiligt ist. „Aber selbst, diejenigen, deren Wert „nur“ um einen Punkt stieg, haben enorm profitiert. Mit Mitapivat haben wir erstmals einen Wirkstoff bei hämatologischen Erkrankungen, der dort ansetzt, wo das Problem liegt. Es bindet an das Enzym Pyruvatkinase und steigert seine Aktivität, damit in den roten Blutkörperchen mehr Energiebausteine zur Verfügung gestellt werden. Voraussetzung ist natürlich, dass das Enzym nur in seiner Struktur verändert ist und nicht vollständig fehlt.“ Diese Tatsache treffe aber für die meisten Defekte in Deutschland und weltweit zu, erklärt der auf Blut- und Krebserkrankungen sowie Neugeborenenmedizin spezialisierte Kinderarzt. „Wir haben dies vor zwei Jahren in einer anderen großen internationalen Studie belegen können.“ (Bianchi P et al., Am J Hematol 2020; doi: 10.1002/ajh.25753).
Würzburg hält die Flagge hoch, um die chronisch schwerkranken Patienten zu unterstützen
Das Uniklinikum ist mit fünf gescreenten und vier randomisierten Patientinnen und Patienten nach Boston, Paris und Kopenhagen das viertgrößte Studienzentrum weltweit und fungierte als nationales Koordinationszentrum in der Studie. Die Charité in Berlin hat ebenfalls einen Probanden rekrutiert, München, Heidelberg und Freiburg haben ihre Patienten über Würzburg betreuen lassen. Finanziert wurde die multizentrische Studie von der Firma Agios Pharmaceuticals mit Sitz in Cambridge nahe Boston (USA), wo sich mit dem Massachusetts General Hospital (MGH) das größte Studienzentrum befindet. Im ältesten und größten Lehrkrankenhaus der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität wurde die Krankheit 1961 entdeckt und 1962 genauer beschrieben, fand dann jedoch lange Zeit kein bis wenig Interesse. „Es gibt nur wenige Zentren, die dieser gutartigen Erkrankung Aufmerksamkeit schenken. Doch es ist wichtig, hier die Flagge hochzuhalten, um die Krankheit zu diagnostizieren und die chronisch schwerkranken Patientinnen und Patienten zu unterstützen“, betont Oliver Andres. Der Experte für den Pyruvatkinase-Mangel hat daher auch den Anstoß für den Aufbau einer Selbsthilfegruppe gegeben, die betroffene Erwachsene und Kinder untereinander vernetzt.
Benefit für Placebo-Gruppe
Nun könnte der Pyruvatkinase-Mangel und die neu entdeckte krankheitsmodifizierende Therapie mit Mitapivat auch wegweisend für andere Anämien wie die Sichelzellanämie oder Thalassämie sein. „Energie ist das A und O für rote Blutkörperchen“, so Hanny Al-Samkari, Hämatologe am MGH und Erstautor der Studie. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat aufgrund der hervorragenden Zwischenergebnisse der Studie das Medikament bereits für die Behandlung von Erwachsenen mit Pyruvatkinase-Mangel zugelassen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA prüft derzeit die Zulassung für Europa. Diejenigen, die im Rahmen der Studie ein Placebo erhielten, dürfen jetzt an einer erweiterten sogenannten Open-Label Extension Study teilnehmen und erhalten das Medikament noch vor der Zulassung in Europa. Damit werden weitere Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit gesammelt. Ob Mitapivat auch bei Kindern mit Pyruvatkinase-Mangel hilft, das wird in einer folgenden Studie untersucht, die voraussichtlich Ende 2022 startet — und wieder mit Würzburger Beteiligung.
Zusatzinformation:
Mehr als 5.000 Blutproben im Erythrozytenlabor untersucht
Oliver Andres hat sich in seiner Habilitationsschrift mit „Blut als ganz besond‘ren Saft“ beschäftigt und etliche Arbeiten zu angeborenen Blutzellerkrankungen in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht. Neben verbesserten Verfahren zur Diagnosestellung von angeborenen Erkrankungen der roten Butkörperchen und Blutplättchen liegt ein Forschungsschwerpunkt von Andres auf Besonderheiten dieser Blutzellen bei Früh- und Neugeborenen und ihrer Auseinandersetzung mit Entzündungsreaktionen oder Tranfusionen. Am Uniklinikum Würzburg fand er mit Prof. Dr. Christian Speer, dem ehemaligen Direktor der Kinderklinik, einen großen Förderer, der die Gründung eines Erythrozytenlabors im Jahr 2010 maßgeblich unterstützt hat. Das Speziallabor, dessen Portfolio unter dem jetzigen Direktor der Kinderklinik, Prof. Dr. Christoph Härtel, weiter ausgebaut wird, hat inzwischen mehr als 5.000 Blutproben aus ganz Deutschland auf Defekte der Membran, des Stoffwechsels und des roten Blutfarbstoffs von Erythrozyten untersucht. „Die häufigste Form der hämolytischen Anämie ist die Kugelzellanämie“, weiß Oliver Andres, der an dieser Stelle auf die enge Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Stefan Eber aus München hinweist. „Mit unserem Speziallabor haben wir dazu beigetragen, bei Kindern oder Erwachsenen die Diagnose zu stellen, die zuvor völlig unklar war. Wir haben Verfahren entwickelt, mit denen wir sogar bei Kindern, bei denen beispielsweise ein Pyruvatkinase-Mangel bereits ausgeschlossen worden war, diesen Defekt diagnostizieren konnten. Selbst wenn das Enzym scheinbar normal arbeitet, wissen wir, dass es im Stoffwechsel Besonderheiten gibt, die selbst einem geschulten Auge den Defekt übersehen lassen.“ Wichtig sei es, die Proben mit besonderer Kenntnis dieses Problems zu analysieren, in unklaren Fällen die Eltern zu screenen und eine molekulargenetische Untersuchung einzuleiten, welche auch an unserem Zentrum angeboten wird. Der Pyruvatkinase-Mangel wird autosomal-rezessiv vererbt. Das heißt, die jeweilige Erkrankung tritt nur auf, wenn das krankhaft veränderte Gen sowohl vom Vater als auch der Mutter an deren Nachwuchs weitergegeben wird oder neu entstanden ist. Heute überblickt das Team von Oliver Andres etwa 50 Kinder und Erwachsene aus Deutschland, die an einem Pyruvatkinase-Mangel leiden.
Zentrum für angeborene Blutzellerkrankungen im ERN EuroBloodNet
Durch die Initiative von Privatdozent Dr. Oliver Andres, der neben seiner Fachkenntnis bei roten Blutkörperchen auch Experte für Blutplättchen, sogenannte Thrombozyten, ist, sind die Spezialambulanzen und -labore inzwischen Teil des Zentrums für angeborene Blutzellerkrankungen, welches im Jahr 2018 unter dem Dach des Zentrums für Seltene Erkrankungen. Referenzzentrum Nordbayern (ZESE) am Universitätsklinikum Würzburg gegründet wurde und dem der Kinder-Hämatologe als Sprecher voransteht. Seit Januar 2022 gehört das B-Zentrum nun auch dem Europäischen Referenznetzwerk ERN für Bluterkrankungen (ERN EuroBloodNet) an, und das in zwei wichtigen Unternetzwerken – für Erkrankungen der Erythrozyten und Thrombozyten. „Als Haupteffekt unserer Beteiligung können unsere Patientinnen und Patienten von der in den Netzwerken vereinigten, internationalen Fachkompetenz profitieren. Die Aufnahme in diese Struktur drückt eine besondere, europaweite Anerkennung unserer eigenen Expertise aus“, kommentiert Professor Helge Hebestreit, stellvertretender Direktor der Würzburger Universitäts-Kinderklinik und Direktor des ZESE. Hebestreit hat Andres auch bei der Vorbereitung und Durchführung der ACTIVATE-Studie unterstützt. „Wir haben die Studie gewissermaßen im Tandem durchgeführt, wofür ich ihm sehr dankbar bin“, sagt Andres. Generell sei die Zusammenarbeit am Forschungscampus großartig gewesen. Von Professor Hermann Einsele und Professor Stefan Knop kam die internistische Expertise, in der Nuklearmedizin bei Professor Andreas Buck wurde die Knochendichte der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer gemessen, und im Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie von Professor Thorsten Bley konnte der Eisengehalt in der Leber mit einem speziellen MRT-Verfahren analysiert werden. Diese Vernetzung am Universitätsklinikum und an der Universität Würzburg spiegelt auch das Behandlungsspektrum und die Kernkompetenz des Zentrums für angeborene Blutzellerkrankungen wider: Eine patientenzentrierte Betreuung von der korrekten Diagnosestellung der zugrundeliegenden Krankheit über die umfassende, interdisziplinäre medizinische Behandlung von Patientinnen und Patienten jeden Alters bis zur Erprobung von hochmodernen neuen Therapieverfahren in eigenen Studienambulanzen für Kinder und Erwachsene.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Oliver Andres, andres_o(at)ukw.de
Originalpublikation:
Al-Samkari H et al., NEJM 2022; doi: 10.1056/NEJMoa2116634
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