Möglicher „Pausenknopf“ in der menschlichen Entwicklung entdeckt

Ein ruhender menschlicher Blastoid.
(c) Heidar Heidari Khoei, IMBA

Ergebnisse könnten helfen IVF und Reproduktionstechnologien zu verbessern.

Einen möglichen „Pausenknopf“ für das früheste Stadium menschlicher Entwicklung haben Forscher*innen des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik entdeckt. Ob der Mensch den zeitlichen Verlauf seiner Entwicklung kontrollieren kann, wird seit langem diskutiert. Die neue Studie legt nahe, dass auch in menschlichen Zellen ein „Pausenknopf“ aktiviert werden kann. Die neuen Erkenntnisse vertiefen unser Verständnis des frühen menschlichen Lebens und könnten die Reproduktionstechnologie verbessern.

Embryonen entwickeln sich normalerweise kontinuierlich weiter, von Empfängnis bis zur Geburt. Bei einigen Säugetieren allerdings passt sich das Timing der Embryonalentwicklung so an, dass sich die Überlebenschancen des Embryos und der Mutter verbessern. Dieser Mechanismus, die so genannte embryonale Diapause, tritt häufig im Blastozystenstadium auf, also kurz bevor sich der Embryo in der Gebärmutter einnistet. Während der Diapause nistet sich der Embryo nicht ein und entwickelt sich nicht weiter. Dieser Ruhezustand kann wochen- oder monatelang aufrechterhalten werden, bis die Entwicklung wieder aufgenommen wird, wenn die Bedingungen günstiger sind – die Schwangerschaft dauert dementsprechend länger. Obwohl nicht alle Säugetiere diese Fortpflanzungsstrategie anwenden, kann die Entwicklungsverzögerung bei vielen experimentell ausgelöst werden. Ob auch menschliche Zellen auf diese Auslöser reagieren könnten, blieb bisher eine offene Frage.

Nun hat eine Studie aus den Labors von Nicolas Rivron am Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Aydan Bulut-Karslıoğlu am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin ergeben, dass die molekularen Mechanismen, die die embryonale Diapause steuern, auch in menschlichen Zellen wirksam zu sein scheinen. Ihre Ergebnisse erscheinen am 26. September im Fachmagazin Cell.

Embryomodelle enthüllen Diapause beim Menschen

Die WissenschaftlerInnen führten keine Experimente an menschlichen Embryonen durch. Stattdessen verwendeten sie menschliche Stammzellen und stammzellbasierte Blastozystenmodelle, so genannte Blastoide. Blastoide sind eine wissenschaftliche und ethische Alternative, um die Forschung an Embryonen zu vermeiden. Die ForscherInnen entdeckten, dass die Veränderung einer bestimmten molekularen Kaskade, des mTOR-Signalwegs, in diesen Stammzellmodellen einen Ruhezustand herbeiführt. Dieser Zustand ist der Diapause sehr ähnlich.

„Der mTOR-Signalweg reguliert das Wachstum und den Entwicklungsfortschritt in Mäuseembryonen“, erklärt Aydan Bulut-Karslıoğlu. „Als wir menschliche Stammzellen und Blastoide mit einem mTOR-Inhibitor behandelten, beobachteten wir eine Entwicklungsverzögerung. Das bedeutet, dass auch menschliche Zellen die molekulare Maschinerie einsetzen können, um eine Reaktion ähnlich der Diapause hervorzurufen.“

Dieser Zustand zeichnet sich aus durch eine verringerte Zellteilung, eine langsamere Entwicklung und eine geringere Fähigkeit zur Anheftung an die Gebärmutterschleimhaut. Die Fähigkeit, in dieses ruhende Stadium einzutreten, scheint auf eine kurze Entwicklungszeit beschränkt zu sein. „Die Entwicklung von Blastoiden kann um das Blastozystenstadium herum verzögert werden, was genau das Stadium ist, in dem die Diapause bei den meisten Säugetieren funktioniert“, sagt Ko-Erstautor Dhanur P. Iyer. Diese Ruhephase ist zudem reversibel: Die Blastoide nehmen ihre normale Entwicklung wieder auf, wenn der mTOR-Signalweg reaktiviert wird.

Potential für IVF

Der Mensch, wie andere Säugetiere auch, könnte also über einen Mechanismus zur vorübergehenden Verlangsamung der Embryonalentwicklung verfügen – auch wenn dieser während der Schwangerschaft nicht genutzt wird. „Dieses Potenzial könnte ein Überbleibsel des evolutionären Prozesses sein, das wir aber nicht mehr nutzen“, sagt Nicolas Rivron. „Obwohl wir die Fähigkeit verloren haben, Schwangerschaften auf natürliche Weise in einen Ruhezustand zu versetzen, deuten diese Experimente darauf hin, dass wir uns diese innere Fähigkeit dennoch bewahrt haben und sie wieder freisetzen könnten“.

Die Entdeckung könnte die Reproduktionsmedizin beeinflussen: „Einerseits ist bekannt, dass eine schnellere Entwicklung die Erfolgsrate der In-vitro-Fertilisation (IVF) erhöht. Eine Steigerung der mTOR-Aktivität könnte diese schnelle Entwicklung erreichen“, erklärt Nicolas Rivron. „Andererseits könnte ein Ruhezustand während einer IVF-Behandlung ein größeres Zeitfenster bieten, um die Gesundheit des Embryos zu beurteilen und den Embryo mit der Mutter zu synchronisieren, um damit die Einnistung in der Gebärmutter zu verbessern.“

Die neuen Erkenntnisse bieten unerwartete Einblicke in unsere früheste Entwicklung, und ermöglichen neue Wege, die reproduktive Gesundheit zu verbessern. „Diese aufregende Zusammenarbeit ist ein Beweis dafür, wie komplexe biologische Fragen durch die Zusammenführung von Fachwissen beantwortet werden können“, sagt Heidar Heidari Khoei, Postdoktorand im Labor von Nicolas Rivron und Ko-Erstautor der Studie. „Unsere Arbeit zeigt nicht nur, wie wichtig die Zusammenarbeit für den Fortschritt der Wissenschaft ist. Sie öffnet auch neue Perspektiven, um zu verstehen, wie Zellen verschiedene Signale am Start ihrer Entwicklungsreise wahrnehmen”.

Über das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik:

Die Forschung am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG) konzentriert sich auf die Analyse der Funktion und Regulation des Genoms, insbesondere während der Embryonalentwicklung, der Differenzierung, der Organentwicklung und bei Krankheiten. Die Forschenden am MPIMG untersuchen Gene und Genome mit automatisierten Methoden, Hochdurchsatztechnologien und verschiedenen Modellsystemen, gefolgt von der computergestützten Analyse und Interpretation der Ergebnisse. Die Kombination von experimentellen und computergestützten Methoden ist ein charakteristisches Merkmal der Arbeit am Institut.

Über das IMBA

IMBA, das Institut für Molekulare Biotechnologie, ist eines der führenden biomedizinischen Forschungsinstitute in Europa. Das IMBA ist im Vienna BioCenter angesiedelt, einem dynamischen Cluster aus Forschungsinstituten, Universitäten und Biotech-Unternehmen in Österreich. IMBA ist ein Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem führenden nationalen Förderer der außeruniversitären akademischen Forschung. Zu den Forschungsthemen des IMBA gehören Organoid- und Entwicklungsbiologie, Regenerationsbiologie, Neurowissenschaften, RNA-Biologie und Chromosomenbiologie.

Originalpublikation:

Dhanur P. Iyer, Heidar Heidari Khoei, Vera A. van der Weijden, Harunobu Kagawa, Saurabh J. Pradhan, Maria Novatchkova, Afshan McCarthy, Teresa Rayon, Claire S. Simon, Ilona Dunkel, Sissy E. Wamaitha, Kay Elder, Phil Snell, Leila Christie, Edda G. Schulz, Kathy K. Niakan, Nicolas Rivron, Aydan Bulut-Karslioglu. mTOR activity paces human blastocyst stage developmental progression. Cell 2024. DOI: 10.1016/j.cell.2024.08.048

https://www.molgen.mpg.de/4770781/news_publication_23506724_transferred?c=2162

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