Nervenzellen sind keine Alleskönner

Winzige anatomische Details einer Nervenzelle können ihr Signalverhalten entscheidend beeinflussen.

TU Wien

Winzige Unterschiede zwischen einzelnen Nervenzellen können ihr Signalverhalten dramatisch verändern, zeigt eine Studie von TU Wien und Massachusetts General Hospital / Harvard Medical School.

Würde man zwei Nervenzellen derselben Sorte gegeneinander austauschen, könnten möglicherweise beide ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Untersuchungen an der Netzhaut von Mäusen zeigen, dass bisherige Annahmen über Nervenzellen neu überdacht werden müssen: Kleinste Details in den anatomischen Eigenschaften können zu signifikanten Änderungen im Antwortverhalten führen.

Eine Zelle, die an einer ganz bestimmten Stelle im Nerven-Netzwerk ihre Arbeit gut erledigt und Signale sinnvoll verarbeitet, könnte an einer anderen Stelle des Netzwerks völlig nutzlos sein, weil ihre anatomischen Eigenschaften dort kein sinnvolles Signalverhalten ermöglichen würde. Untersucht wurde das von einem Forschungsteam der TU Wien und der Harvard Medical School. Eine Publikation dazu erschien nun im Fachjournal „Science Advances“.

Zellen in der Mäuse-Retina

„Die Lichtempfindlichkeit einiger Zelltypen einer Mäuse-Netzhaut ist im oberen Bereich des Gesichtsfeldes anders als im unteren“, sagt Paul Werginz von der TU Wien, Erstautor der Studie. „Im unteren Bereich findet sich Beute, oben ist der Himmel, dort ist es heller, und dort müssen Angreifer erkannt werden.“ So hat die Evolution dazu geführt, dass die Nerven-Netzwerke in unterschiedlichen Bereichen der Mäuse-Netzhaut unterschiedlich sensibel reagieren, obwohl es sich um Zellen desselben Typs handelt.

Paul Werginz untersuchte schon vor Jahren an der TU Wien das Antwortverhalten von Nervenzellen auf theoretischer Ebene und entwickelte Computermodelle dazu. Unterstützt durch ein FWF Schrödinger Fellowship ging er für zwei Jahre an die Harvard Medical School, wo er die Nervenzellen in zahlreichen Experimenten unter dem Mikroskop einzeln analysieren konnte. Nun ist er wieder an die TU Wien zurückgekehrt und präsentiert gemeinsam mit dem Team aus Harvard seine Ergebnisse.

„Beim Simulieren von Nerven-Netzwerken am Computer ging man bisher normalerweise einfach davon aus, dass Nerven desselben Nervenzell-Typs im Grunde identische Eigenschaften haben“, sagt Paul Werginz. Wenn wir etwas lernen, dann ändert sich die Stärke der Verbindung zwischen den Zellen. Die Art, wie die Aktivität einer Zelle die Aktivität der nächsten Zelle beeinflusst, wird modifiziert – das ist auch die Grundidee hinter künstlichen neuronalen Netzwerken, die man in der Softwareentwicklung für die Entwicklung künstlicher Intelligenz einsetzt. Doch grundsätzlich ging man davon aus, dass die Zellen ihre anatomischen und physiologischen Eigenschaften dabei nicht wesentlich ändern und alle Zellen dieselben Möglichkeiten haben, Signale benachbarter Zellen in neue Signale umzuwandeln.

Doch wie sich zeigt, reicht diese Sichtweise nicht aus um das Verhalten biologischer Nerven-Netzwerke zu erklären. „Im Anfangsbereich des Axons der Nervenzelle, dort wo die Signale aus den benachbarten Zellen aufsummiert werden und entschieden wird, ob die Zelle feuert, gibt es wichtige anatomische Unterschiede zwischen den einzelnen Zellen“, sagt Paul Werginz. „Wir haben viele verschiedene Parameter untersucht, etwa die Länge des Abschnitts, den man als Axon Initial Segment bezeichnet, und haben festgestellt, dass solche anatomischen Parameter das Verhalten der Nervenzelle ganz entscheidend mitbestimmen.“ Das bedeutet, dass nicht jede Zelle zu jeder Signalverarbeitung fähig ist. Die anatomischen Details der Zelle müssen auf ihre Aufgabe abgestimmt sein.

„Sinnvoll zur Datenverarbeitung beitragen kann die Zelle nur dann, wenn sie in bestimmten Situationen ein Signal liefert und in anderen nicht“, sagt Vineeth Raghuram, zweiter Hauptautor der Studie. „Aber das ist nur möglich, wenn die anatomischen Parameter der Zelle wie etwa die Länge des Axon Initial Segments genau die richtigen Werte haben – und diese Werte müssen genau zur Umgebung der Nervenzelle passen, sie können im oberen Gesichtsfeld der Maus anders sein als im unteren.“ Wären diese Parameter anders, würde die Zelle kein Signal liefern, das vom Gehirn sinnvoll interpretiert werden kann.

„Das bedeutet also, dass sich sogar Nervenzellen desselben Zelltyps durch ihre unterschiedlichen anatomischen Details unterschiedlich verhalten – und zwar genau so, wie es ihrer Aufgabe in ihrer lokalen Umgebung entspricht“, erklärt Werginz. Würde man zwei Zellen austauschen, wären möglicherweise beide nutzlos, nur weil sie leicht unterschiedlich gebaut sind.

Kleine Unterschiede mit großer Bedeutung

Wie sich diese feinen Unterschiede entwickeln und ob sie genetisch vorgegeben sind, ist bisher noch nicht vollständig geklärt. Fest steht, dass es sich nicht um gewöhnliche Neuroplastizität handelt, wie sie dem normalen Lernen zugrunde liegt. „Wenn wir das Verhalten von Nervennetzwerken verstehen wollen, müssen wir jedenfalls berücksichtigen, dass diese feinen Unterschiede das Signalverhalten einer einzelnen Zelle völlig verändern kann“, betont Paul Werginz. „Ich kann mir gut vorstellen, dass das auch für die Untersuchung neuronaler Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen kann.“

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Paul Werginz
Institut für Analysis und Scientific Computing
Technische Universität Wien
+43 1 58801 10166
paul.werginz@tuwien.ac.at

Originalpublikation:

P. Werginz, V. Raghuram, S.Fried: Tailoring of the axon initial segment shapes the conversion of synaptic inputs into spiking output in OFF-α T retinal ganglion cells, Science Advances Vol. 6, no. 37, https://advances.sciencemag.org/content/6/37/eabb6642

https://www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/news/news/nervenzellen-sind-keine-alleskoenner/

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