Neue Einblicke in die Genetik des Gemeinen Kraken
Genom auf Chromosomenebene entschlüsselt…
Wissenschaftlicher Meilenstein ermöglicht vertiefte Einblicke in die Evolution und Biologie von Octopus vulgaris.
Kraken sind faszinierende Tiere – und dienen als wichtige Modellorganismen in den Neurowissenschaften, der Kognitionsforschung und der Entwicklungsbiologie. Um ein tieferes Verständnis ihrer Biologie und Evolutionsgeschichte zu erlangen, bedarf es validierter Daten über die Zusammensetzung ihres Genoms, die bisher fehlten. Wissenschafter*innen der Universität Wien konnten nun gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam diese Lücke schließen und ermittelten in einer Studie beeindruckende Zahlen: 2,8 Milliarden Basenpaare – organisiert in 30 Chromosomen. Was so einfach klingt, ist das Ergebnis komplexer, computergestützter Genomanalysen und Vergleiche mit den Genomen anderer Kopffüßerarten. Diese bahnbrechende Forschungsarbeit wurde soeben in der renommierten Zeitschrift G3: Genes / Genomes / Genetics veröffentlicht.
Kraken gehören gemeinsam mit Kalmaren und Tintenfischen zu einer Gruppe coleoider Kopffüßer, die aus mehreren hundert Arten besteht und sich durch sehr unterschiedliche Lebensweisen, Körperstruktur und Anpassungen an ihre Umwelt auszeichnet. Die Erforschung dieser Tiere blickt auf eine lange Tradition zurück, zumal die neuronale Plastizität des Krakengehirns – also die Fähigkeit des Gehirns, sich beim Lernen und Erleben neuer Dinge zu verändern und anzupassen – Hinweise auf funktionell analoge Strukturen zum Gehirn von Säugetieren liefert. Dies macht sie zu einer vergleichbaren Modellgruppe für neurophysiologische Studien. Auch ihre Fähigkeit, Teile ihres Körpers zu regenerieren sowie die rasche Veränderung ihrer Körpermuster, die für die Tarnung und Kommunikation wichtig sind, machen Kraken zu einem beliebten Forschungsobjekt, um zu untersuchen, wie diese innovativen Merkmale im Laufe der Evolution entstanden sind – und wie sie sich verändert haben.
Eine Lücke schließen
In der Forschungsgemeinschaft besteht ein wachsender Bedarf an detaillierten Kenntnissen über die Genome von Kopffüßern, um die Entwicklung ihrer einzigartigen Merkmale und ihrer Biologie zu verstehen. Ein wichtiger Beitrag dazu ist die Entschlüsselung des Genoms des Gemeinen Kraken auf Chromosomenebene – eine Information, die bisher nicht verfügbar war. Dies hat nun ein Forschungsteam der Universität Wien nachgeholt, das gemeinsam mit Kolleg*innen der KU Leuven (Belgien), des Centro Nacional de Análisis Genómico (CNAG; Spanien) und der Stazione Zoologica Anton Dohrn (Italien) die fehlenden Daten „nachgeliefert“ und umfangreiche, molekularbiologische und computergestützte Untersuchungen des Krakengenoms durchgeführt hat. „Mit unseren heutigen Technologien in der Genomforschung konnten wir eine Art „Genomkarte“ für den Kraken erstellen, die zeigt, wie die genetische Information auf Chromosomenebene angeordnet ist“, erklärt die Erstautorin der Studie, Dalila Destanović, Wissenschafterin am Simakov-Labor am Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie der Universität Wien. Dieses auf Chromosomenebene hoch aufgelöste Referenzgenom wird es der wissenschaftlichen Gemeinschaft ermöglichen, einerseits die Merkmale und die Biologie dieser faszinierenden Tiere besser zu verstehen und andererseits die Evolutionsgeschichte von Octopus vulgaris nachzuvollziehen. Forschungsteams können nun den evolutionären Werdegang von coleoiden Kopffüßern und entfernter verwandten Weichtieren wie Muscheln oder Schnecken weiter erforschen und verstehen.
2,8 Milliarden Basenpaare – 30 Chromosomen
Tatsächlich konnten die Forscher*innen 30 Chromosomen im Genom von Octopus vulgaris identifizieren, in denen 99,34 % von 2,8 Milliarden Basenpaaren angeordnet sind. Damit verfügen die Wissenschaft*innen nun über eine qualitativ hochwertige Referenzsequenz, die als Grundlage für weitere Studien zur Funktion von Genen dienen und damit zu einem besseren Verständnis der biologischen Eigenschaften des Gemeinen Kraken führen wird. Die chromosomale Struktur des Genoms von Octopus vulgaris wird auch Einblicke in die dynamische Evolutionsgeschichte dieser Organismen geben, indem die Chromosomenumlagerungsraten abgeschätzt werden. Durch den Vergleich des Genoms von Octopus vulgaris mit den Genomen von vier anderen Krakenarten konnten die Forscher*innen bereits zeigen, dass alle Chromosomen zahlreiche strukturelle Veränderungen aufweisen, die im Laufe der Evolution durch das Abbrechen von Chromosomenstücken, ihre Neuanordnung und ihre Wiederverbindung am selben Chromosom entstanden sind. „Selbst bei eng verwandten Arten haben wir zahlreiche strukturelle Veränderungen an den Chromosomen beobachtet. Dieser Befund wirft Fragen zur Genomdynamik im Laufe ihrer Evolutionsgeschichte auf und eröffnet die Möglichkeit zu untersuchen, wie diese mit ihren einzigartigen Merkmalen zusammenhängt“, erklärt Dalila Destanović. Die dynamische Evolutionsgeschichte des Krakengenoms umfasst einen Zeitraum von 44 Millionen Jahren – und viele spannende Forschungsfragen sind noch offen. Die Ergebnisse der aktuellen Studie werden dazu beitragen, einige dieser Fragen zu beantworten, indem sie eine Brücke zwischen der traditionellen Octopus vulgaris-Forschung in den Bereichen Neurobiologie, Verhalten und Entwicklung und den molekulargenetischen Erkenntnissen in diesen Bereichen schlagen.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dalila Destanović
Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie, Universität Wien
1030 Wien, Djerassiplatz 1
T +1 203 435 1538
dalila.destanovic@gmail.com
www.univie.ac.at
Dr. Darrin T. Schultz
Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie, Universität Wien
1030 Wien, Djerassiplatz 1
darrin.schultz@univie.ac.at
www.univie.ac.at
Originalpublikation:
A chromosome-level reference genome for the common octopus, Octopus vulgaris (Cuvier, 1797). Dalila Destanović, Darrin T. Schultz, Ruth Styfhals, Fernando Cruz, Jèssica Gómez-Garrido, Marta Gut, Ivo Gut, Graziano Fiorito, Oleg Simakov, Tyler S. Alioto, Giovanna Ponte, Eve Seuntjens. G3: Genes / Genomes / Genetics
DOI: 10.1093/g3journal/jkad220
https://doi.org/10.1093/g3journal/jkad220
Weitere Informationen:
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