Neue Möglichkeiten für ein heilsames Gift

Richard Kammerer und Oneda Leka in einem der Labore des PSI vor einer Apparatur, die unter anderem der Aufreinigung von Proteinen dient.
Foto: Mahir Dzambegovic / Paul Scherrer Institut

Forschende des PSI haben einen überraschenden Kniff entdeckt, der die Einsatzmöglichkeiten des unter dem Kurznamen Botox bekannten Wirkstoffs Botulinumtoxin A1 in der Medizin erweitern könnte. Sie haben Antikörper-ähnliche Proteine entwickelt, die die Wirkung des Enzyms auf die Nervensignalübertragung beschleunigen. Damit könnte Botox zum Beispiel Schmerzen schneller lindern als bislang. Die Studie wurde jetzt im Magazin Nature Communications veröffentlicht.

Botulinum Neurotoxin A1, besser bekannt unter dem Markennamen Botox, ist eigentlich ein Nervengift, das von Bakterien produziert wird. Grosse Bekanntheit erlangte es durch seinen Einsatz als kosmetisches Hilfsmittel. So lassen sich viele Menschen damit Falten unterspritzen, um jünger auszusehen. Die Substanz blockiert die Signalübertragung der Nerven auf Muskeln, entspannt diese und sorgt so für weichere Gesichtszüge. Es dauert ein paar Tage, bis die Wirkung einsetzt, dafür hält sie dann für rund drei Monate an. Was weniger bekannt ist: Botox wird auch in der therapeutischen Medizin sehr häufig genutzt, um Leiden zu behandeln, die auf krampfende Muskeln oder Fehlsignale von Nerven zurückzuführen sind, beispielsweise Schmerzen, Spastiken, Blasenschwäche, Zähneknirschen, Fehlstellungen, etwa der Augen. Sogar bei Magenkrebs wird Botox verwendet, um den Nervus Vagus zu blockieren und so das Tumorwachstum zu bremsen.

Bei jeder Therapie ist es entscheidend, das hochwirksame Medikament sehr gezielt und sorgsam dosiert einzusetzen, denn Botox ist das potenteste natürliche Nervengift überhaupt, das zu gefährlichen Lähmungen, als Krankheitsbild auch Botulismus genannt, führen kann. Schon rund hundert Nanogramm intravenös verabreicht genügen, um einen Menschen zu töten, denn das Gift lähmt unter anderem die Atemmuskulatur.

Verschiedene Typen von Botox

Botulinum Neurotoxine werden in sieben sogenannten Serotyp-Gruppen zusammengefasst, die mit den Buchstaben A bis G bezeichnet werden. Aus der ersten, Serotyp A genannt, stammt das in der Kosmetik genutzte Botox. Genau wird es als Subtyp A1 bezeichnet. Von drei weiteren Serotypen – B, E und F – weiss man, dass sie bei Menschen ebenfalls zu Botulismus führen können, wobei E und F deutlich schneller, dafür aber nicht so lange wirken wie A und B. Der Effekt setzt bereits nach Stunden ein und hält nur wenige Wochen an, was zum Beispiel in der Schmerztherapie und Orthopädie wichtige Optionen eröffnet. Die Typen C und D wirken bei einigen Tierarten wie etwa Vögeln, beim Typ G sind noch keine Fälle von Botulismus aufgetreten.

Produziert werden die Serotypen hauptsächlich von verschiedenen Stämmen des Bakteriums Clostridium botulinum. Die Mikroben gedeihen anaerob, also unter Sauerstoffausschluss, und kommen vor allem im Erdreich, in Meeres- und Flusssedimenten vor. Gelangen sie in Lebensmittel und werden diese unter Luftausschluss aufbewahrt, was beispielsweise bei Konserven der Fall sein kann, besteht die Gefahr einer Kontamination mit dem Gift. So kann der Verzehr Botulismus hervorrufen. Die Erkrankung tritt allerdings sehr selten auf, in den vergangenen zehn Jahren waren es in der Schweiz lediglich ein bis zwei Fälle pro Jahr.

Überraschende Ergebnisse

In einem Forschungsprojekt wollte ein Team unter Leitung von Richard Kammerer vom Labor für biomolekulare Forschung am PSI nun untersuchen, ob man die Wirkung des Toxins beeinflussen kann. „Wir haben dafür zusammen mit dem Biochemiker Andreas Plückthun von der Universität Zürich fünfundzwanzig sogenannte DARPins produziert“, sagt Kammerer. DARPins sind kleine, künstlich hergestellte Proteine, die ähnlich wie Antikörper fungieren. Sie werden in der medizinischen Therapie, Diagnose und Grundlagenforschung eingesetzt.

Die Idee war, DARPins zu finden, die gezielt an die sogenannte katalytische Domäne des Botox Serotypen A1 binden, jenen Teil des Enzyms, der für dessen Wirkung auf die Nerven verantwortlich ist, indem er gewisse Proteine zerschneidet. Die DARPins sollten diese Funktion hemmen. „In vitro – also im Reagenzglas an einzelnen Proben – haben wir auch einen geeigneten DARPin-Kandidaten identifiziert, der Botulinumtoxin in seiner Funktion eindämmt“, berichtet Kammerer. Durch Beobachtungen an der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS des PSI konnten die Forschenden den Komplex aus DARPin und der katalytischen Domäne bis hinunter auf die molekulare Ebene genau beobachten und herausfinden, wie der DARPin die Spaltung verhindert. Doch als die Forschenden diesen DARPin in Zusammenarbeit mit einem Team am Institut für Biomedizin der italienischen Universität Padua auch in Zellkulturen testeten, zeigte sich plötzlich ein ganz anderer – gegenteiliger – Effekt: Die giftige Wirkung des Botox – also das Spalten von Proteinen, die für die Signalübertragung der Nerven wichtig sind – setzte sogar schneller ein als sonst. „Wir dachten zunächst, wir hätten etwas falsch gemacht“, sagt Studienerstautorin Oneda Leka, Postdoktorandin am PSI-Labor für biomolekulare Forschung. Doch weitere Versuche bestätigten das widersprüchliche Ergebnis: Die Giftwirkung des Botox-Enzyms beschleunigte sich, anstatt nachzulassen.

Die Forschenden wiederholten die Versuche nun mit echten Muskeln, den Zwerchfellen von Mäusen. Diese bleiben in einer Nährlösung noch für längere Zeit intakt und sind ein beliebtes Modell, um die Wirkung von Nervengiften zu testen. Auch hier zeigte sich: Mit dem DARPin setzte die lähmende Wirkung des Toxins mehr als doppelt so schnell ein.

Neue Optionen für die Botox-Therapie

Die grosse Frage war nun: Warum ist das so? Die mögliche Erklärung dafür ist biochemisch sehr komplex. Einfach ausgedrückt ist es so, dass der DARPin das Toxin tatsächlich in einer Weise destabilisiert, dass es schneller in das Innere der Nervenzelle transportiert wird. In der Folge wirkt das Toxin schneller.

„Der DARPin könnte damit das Spektrum der Einsatzmöglichkeiten von Botulinum Neurotoxin erweitern“, sagt Oneda Leka. Auch wenn die Forschenden im Rahmen der Studie keine Vergleichstests angestellt haben, sieht es so aus, dass Botulinum Neurotoxin A1 mit dem DARPin erheblich schneller wirkt als A1 ohne die Antikörper. Gleichzeitig bleibt die Wirkdauer deutlich länger als die von E und F. Der Zusatz von diesem DARPin liefert also eine Art Zwischenvariante zwischen Serotyp A sowie E und F. Das Ergebnis – so unerwartet es war – eröffnet demnach neue Möglichkeiten der Behandlung verschiedener Erkrankungen. „In der Schmerzmedizin könnte ein Zusatz, der das Einsetzen der Wirkung eines lang anhaltenden, höchst effektiven Medikaments beschleunigt, von Interesse sein“, meint Richard Kammerer.

Text: Jan Berndorff

Über das PSI

Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Zukunftstechnologien, Energie und Klima, Health Innovation und Grundlagen der Natur. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2200 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 420 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Richard Alfred Kammerer
Gruppenleiter Protein Engineering
Labor für biomolekulare Forschung
Paul Scherrer Institut, Forschungsstrasse 111, 5232 Villigen PSI, Schweiz
Telefon: +41 56 310 47 65, E-Mail: richard.kammerer@psi.ch

Originalpublikation:

A DARPin Promotes Faster Onset of Botulinum Neurotoxin A1 Action
Oneda Leka et al.
Nature Communications, 18.12.2023
DOI: 10.1038/s41467-023-44102-4

Weitere Informationen:

https://psi.ch/de/node/59984 – Medienmitteilung auf der Webseite des Paul Scherrer Instituts PSI

Media Contact

Dr. Mirjam van Daalen Abteilung Kommunikation
Paul Scherrer Institut (PSI)

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