Punkt, Punkt, Komma, Strich – wie unser Gehirn Strichzeichnungen erkennt

Während die Studienteilnehmer diese Bilder ansahen, wurde ihre Hirnaktivität mit funktioneller Magnetresonanztomographie aufgezeichnet.
(c) MPI CBS

Wie ist es dem Gehirn möglich, gezeichnete Objekte als Haus oder als Tier zu erkennen?

In einer aktuellen Studie im Journal of Neuroscience haben Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin und der Justus-Liebig-Universität Gießen untersucht, wie sich unsere Wahrnehmung von Strichzeichnungen von natürlichen Bildern unterscheidet. Die Forscher zeigen, dass die Wahrnehmung von Objekten besonders robust gegenüber Veränderungen in unserer Umwelt ist.

Fast jeder Mensch kann mit ein paar Strichen Objekte darstellen. Kindergartenkinder kommen oft mit selbstgemalten Bildern nach Hause, auf denen Mama, Papa oder vielleicht das eigene Zuhause zu erkennen sind. Und selbst vor tausenden von Jahren malten unsere Vorfahren mit Strichen Tiere und andere Objekte an Höhlenwände. Aber wie ist es eigentlich möglich, dass wir diese Objekte als Haus oder als Tier erkennen? Schließlich unterscheiden sich Strichzeichnungen stark von den Objekten, die uns umgeben: Sie haben oft keine Farbe, sind stark vereinfacht, und haben oft sogar eine ganz andere Form als das echte Objekt.

Um der Frage nachzugehen, wie wir Menschen Strichzeichnungen wahrnehmen, haben Wissenschaftler am MPI CBS in Leipzig in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin und der Justus-Liebig-Universität Gießen untersucht, wie sich unsere Wahrnehmung von Strichzeichnungen von natürlichen Bildern unterscheidet. Dabei zeigten die Forscher den Versuchsteilnehmern Bilder von Objekten wie Hunden oder Autos in drei Varianten: einmal als normales Foto, einmal als eine detaillierte Strichzeichnung des Fotos, und einmal als schnell gekritzeltes Bild. Während sie diese Bilder ansahen, wurde ihre Hirnaktivität mit funktioneller Magnetresonanztomographie und Magnetenzephalographie aufgezeichnet.

Johannes Singer, Erstautor der Studie, erklärt: “Durch die Verwendung dieser beiden Messmethoden konnten wir die Hirnregionen bestimmen, die an der Wahrnehmung von Objekten beteiligt sind und auch den zeitlichen Verlauf der Hirnaktivitätsveränderung auf die Millisekunde genau messen. Wir konnten also dem Gehirn genau bei der Arbeit zuschauen, während es Bilder von Objekten als Fotos und als Strichzeichnungen verarbeitete.”

Die Forscher hatten dabei zwei Vermutungen: Entweder nimmt unser Gehirn Objekte als Strichzeichnungen anders wahr. Dann muss es auf weitere Verarbeitungsschritte zurückgreifen. Die Strichzeichnung eines Hundes muss im Gehirn also im übertragenen Sinne eine Extrarunde drehen, bevor sie erkannt wird. Oder unser Gehirn ist so, wie es ist, bereits flexibel genug, einen Hund auch dann zu erkennen, wenn es sich nur um ein paar Striche handelt.

Die Ergebnisse waren eindeutig: Für die Wahrnehmung von Zeichnungen waren die Hirnsignale sehr ähnlich zu denen, die für Fotos von Objekten gemessen wurden. Das heißt, dass unser Gehirn ganz automatisch mit Strichzeichnungen von Objekten umgehen kann.

“Diese Ergebnisse sind nicht nur interessant für unser Verständnis davon, wie wir Strichzeichnungen wahrnehmen”, so Martin Hebart, Leiter der Studie. “Wir wissen jetzt auch, dass unsere Wahrnehmung von Objekten wirklich besonders robust gegenüber Veränderungen in unserer Umwelt ist.”

Unser Gehirn macht es uns also leicht, Objekte als Strichzeichnungen zu erkennen. Wenn man zum Beispiel nicht besonders gut zeichnen kann, dann ist das nicht so schlimm: Das Gehirn hilft uns schon beim Erkennen. In der Zukunft wollen die Forscher diese Ergebnisse auf eine größere Anzahl an Objekten ausweiten – und auf die Frage, ob es nicht vielleicht doch Strichzeichnungen gibt, die für unser Gehirn schwerer wahrzunehmen sind als andere.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Martin Hebart
Forschungsgruppenleiter
hebart@cbs.mpg.de
Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences, Leipzig

Johannes Singer
doctoral researcher (in Kooperation mit FU Berlin)
jsinger@cbs.mpg.de

Originalpublikation:

Johannes J.D. Singer, Radoslaw M. Cichy and Martin N. Hebart:
“The spatiotemporal neural dynamics of object recognition for natural images and line drawings”
in: The Journal of Neuroscience
https://www.jneurosci.org/content/early/2022/12/07/JNEUROSCI.1546-22.2022

Weitere Informationen:

https://www.cbs.mpg.de/2081585/20230105

Media Contact

Bettina Hennebach Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

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Kommentare (1)

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  1. Meiner Meinung nach wird hier ein falscher Ansatz verfolgt.
    Das Gehirn „dreht keine Extrarunde“ um eine Strichzeichnung einem natürlichen Bild zuzuordnen. Die Speicherung verläuft umgekehrt. Es speichert die Umwelt in einer Art „ Punktemuster und Verbindungen als Linien zu den Punkten“ ab. Details wie z.B. Farben werden bei Bedarf den Mustern nachträglich zugeordnet.
    Damit lässt sich leicht erklären, warum der Mensch anhand von Strichzeichnungen Objekte erkennt.
    Das Verarbeiten von optischen Details ist evolutionär durch die dadurch benötigte höhere Energie und langsame Verarbeitungsgeschwindigkeit (Reaktionszeit) eher von Nachteil.
    Zum Überleben musste der Mensch möglichst schnell potentielle Gefahren, wie z.B. Raubtiere erkennen können. Je weniger Informationen zur Identifikation von Gefahren benötigt werden, desto schneller kann eine Reaktion stattfinden. Folglich hat sich ein System durchgesetzt, dass diesen Anforderungen genügt. Wir erkennen Gegenstände anhand von bestimmten Mustern aus Punkten, Linien und deren Verhältnisse zueinander. Auch der „Speicherplatz“ den solche Muster belegen ist deutlich geringer, als ein detailliertes Objekt.
    Ich glaube, dass das Gehirn zur „Steuerung und Reaktion“, (unbewusste Prozesse) mit diesen Punktemustern arbeitet. Erst auf der „bewussten Ebene“ werden daraus detaillierte Objekte.

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