Wie sich radioaktives Selen im Endlager verhält
Chemiker des Forschungszentrums Dresden-Rossendorf (FZD) fanden nun heraus, dass Selen-79 sehr viel weniger mobil ist als bisher von der Fachwelt vermutet.
Die sichere Endlagerung von radioaktivem Abfall ist eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Alle hierfür entwickelten Konzepte sehen vor, dass die oft langlebigen radioaktiven Substanzen durch viele Barrieren von der Umwelt ferngehalten werden – durch Einbettung in eine keramische oder gläserne Matrix, Verfüllung in Stahlfässer, Auffüllen von Ton sowie durch die geologischen Besonderheiten der Endlagerstätte selbst.
Das Isotop Selen-79 mit einer Halbwertszeit von einer Million Jahren stellt einen bedeutenden Anteil an der hohen radioaktiven Dosis und Toxizität eines Endlagers. Unter Fachleuten ruft es aber vor allem auch deswegen Besorgnis hervor, weil bislang davon ausgegangen werden musste, dass Selen-79 von den Barrieren nur schlecht zurückgehalten wird und sich daher möglicherweise weit verbreitet.
Diese Eigenschaft hängt mit der besonderen Chemie von Selen zusammen: durch Änderung des Oxidationszustands (Aufnahme oder Abgabe von Elektronen), ändert sich das Umweltverhalten diese Elementes grundlegend. Bislang nahm man an, dass Selen im Endlager in den zwei Oxidationsstufen +IV und +VI vorkommt. Dabei entstehen Anionen (negativ geladene Moleküle), die sich sehr gut in Wasser lösen und zudem kaum mit den Barrierematerialien reagieren. Wird Selen jedoch zu den Oxidationsstufen 0 oder -II reduziert, dann fallen unlösliche Minerale (Festphasen) aus, und die Gefahr, dass eindringendes Grundwasser radioaktives Selen in die Umwelt trägt, sinkt drastisch.
Langwierige und aufwendige Experimente an der „Rossendorf Beamline“ (ROBL) am Europäischen Synchrotron im französischen Grenoble konnten nun erstmals genau aufklären, wie sich Selen-79 im Endlager und in der Umwelt verhält. Die teils überraschenden Ergebnisse tragen maßgeblich zur Sicherheit von Endlagerstätten bei. Dr. Andreas Scheinost, Leiter von ROBL: „Heute können wir mit großer Sicherheit annehmen, dass Selen-79 am Stahlcontainer festgehalten wird, selbst wenn dieser durchrostet. Weiteren Schutz bieten die unterschiedlichen Minerale, die um den Container herum vorkommen. Das Risiko, dass Selen-79 in die weitere Umgebung des Endlagers und damit in die Umwelt gelangen könnte, ist somit wesentlich geringer als bisher angenommen.“
Bei den Untersuchungen zur Reduktion von Selen-79 kam die Stärke von ROBL zum Tragen: als lange Zeit einziges Strahlrohr für radioaktive Proben ist es hier möglich, hochauflösende spektroskopische Untersuchungen an radioaktiven Schwermetallen durchzuführen – und dies mit genau kontrollierbaren Parametern. Bisher war die Untersuchung von Selen-79 unter reduzierenden Bedingungen nicht möglich, weil hierfür gewährleistet sein muss, dass die Probe unter Sauerstoffausschluss hergestellt, transportiert und in mehrstufigen Prozessen analysiert werden kann. Diese hohen Anforderungen an Experimente mit Selen konnte Dr. Scheinost nun in einer gemeinschaftlichen Anstrengung mit den Universitäten in Grenoble, Bordeaux, Le Mans (Frankreich) und Umea (Schweden), dem „Centre National de la Recherche Scientifique“ (CNRS) und dem FZD erfüllen. So gelangen an ROBL aufwendige Experimente zur Röntgen-Absorptions-Spektroskopie (kurz: XAS). Mit diesen und weiteren Methoden untersuchte Dr. Scheinost gemeinsam mit seinen Kooperationspartnern das Bindungsverhalten von Selen-79 unter Endlager-Bedingungen.
Im Endlager tritt Selen-79 mit metallischem Eisen, Rost oder mit unterschiedlichen Mineralen wie Montmorillonit, Magnetit, Siderit oder Mackinawit in Reaktion. Diese Substanzen kommen an der Oberfläche von rostenden Stahlfässern, in der die Fässer umgebenden Auffüllmasse sowie im Wirtsgestein des Endlagers vor. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass all diese Substanzen in der Lage sind, Selen von der Oxidationsstufe +IV zu den Oxidationsstufen 0 oder -II zu reduzieren. Dabei konnten auch die Reaktionsschritte von Selen-79 im Detail nachvollzogen werden bis hin zu den exakten Reaktionsgeschwindigkeiten. So laufen etwa die Reduktionsprozesse zwischen dem radioaktiven Isotop und Metall oder Rost erstaunlich schnell ab – teils in 10 bis 30 Minuten -, während die Reduktion an weniger reaktiven Oberflächen wie an Tonmineralen bis zu mehreren Monaten dauern kann. Die bei der Reduktion entstehenden Festphasen sind Partikel mit nur wenigen Nanometern Durchmesser (1 Nanometer = 1 Millionstel Millimeter). Bislang hatte man angenommen, dass die Löslichkeit solch kleinster Partikel im Vergleich zu normal großen Kristallen sehr groß ist. Erstaunlicherweise haften die Nano-Partikel an den Reaktionsoberflächen fest an und können somit vom Grundwasserstrom nicht transportiert werden. Damit können eine ganze Reihe von Prozessen, die zu einer beschleunigten Verbreitung von Selen-79 führen könnten, heute sicher ausgeschlossen werden.
Veröffentlichungen:
1) Scheinost, A.C., Charlet, L.: „Selenite reduction by mackinawite, magnetite and siderite: XAS characterization of nanosized redox products“, in: Environmental Science & Technology, 42, S. 1984-1989 (2008).
2) Loyo, R.L.d.A., Nikitenko, S.I., Scheinost, A.C., Simonoff, M.: „Immobilization of selenite on Fe3O4 and Fe/FeC3 ultrasmall particles“, in: Environmental Science & Technology, 42(7), S. 2451-2456 (2008).
3) Charlet L., Scheinost A. C., Tournassat C., Greneche J. M., Géhin A., Fernández-Martínez A., Coudert S., Tisserand D., Brendle J.: „Electron transfer at the mineral/water interface: Selenium reduction by ferrous iron sorbed on clay“, in: Geochim Cosmochim Ac 71(23), S. 5731-5749 (2007).
4) Scheinost A. C., Kirsch R., Banerjee D., Fernandez-Martinez A., Zaenker H., Funke H., Charlet L.: „X-ray absorption and photoelectron spectroscopy investigation of selenite reduction by FeII-bearing minerals“, in: Journal of Contaminant Hydrology 102, S. 228-245 (2008).
Ansprechpartner im FZD / an der ESRF:
PD Dr. Andreas Scheinost
Institut für Radiochemie des FZD
Rossendorf Beamline an der ESRF
Tel.: ++33 476 88 24 62
Email: scheinost@esrf.fr
Pressekontakt im FZD:
Dr. Christine Bohnet
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Forschungszentrum Dresden-Rossendorf (FZD)
Bautzner Landstr. 400, 01328 Dresden
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