Von Riesenmäusen und sozialen Mehlkäfern – Noch immer sind viele Rätsel der Evolution ungelöst

Die Erklärung des Ursprungs und der Entwicklung der Artenvielfalt ist das Ziel der Evolutionsbiologie. Die Fragen, mit denen sich Evolutionsbiologinnen und Evolutionsbiologen beschäftigen, sind daher genauso vielfältig wie das Leben selbst.

Wie kommt es beispielsweise dazu, dass Elefanten, die es auf eine Insel verschlägt, über lange Zeiträume hinweg zu Zwergen schrumpfen während Mäuse zu Riesen mutieren? Wie schafft es das HI-Virus immer wieder Resistenzen gegen neue Medikamente zu entwickeln?

Dies sind nur zwei der zahlreichen spannenden Fragen, denen die im Rahmen der Initiative Evolutionsbiologie von der VolkswagenStiftung geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den kommenden Jahren auf den Grund gehen werden. In der diesjährigen Bewilligungsrunde waren 21 Bewerberinnen und Bewerber um ein Stipendium erfolgreich, die VolkswagenStiftung unterstützt die Vorhaben mit insgesamt rund 5,9 Millionen Euro.

Insgesamt wurden neun Doktoranden-Stipendien, sieben Postdoktoranden-Stipendien (early phase) und fünf Postdoktoranden-Stipendien (advanced phase) vergeben. Im Folgenden wird aus jeder der drei Linien ein Projekt ausführlich vorgestellt.

Das Geheimnis der Riesenmäuse

Inseln spielen in der Geschichte der Evolutionsbiologie eine ganz besondere Rolle: Schließlich waren es unter anderem die Finken auf den Inseln des Galapagos-Archipels, die Charles Darwin zur Formulierung seiner Evolutionstheorie inspirierten. Tatsächlich gelten Inseln als natürliche Laboratorien der Evolution, weil sie auf engstem Raum kleine Gruppen von Organismen geographisch voneinander trennen, die sich in der Folge verschiedenartig weiterentwickeln. Zwei Effekte, die sich im Zusammenhang mit genetischer Anpassung auf Inseln beobachten lassen, sind Gigantismus und Verzwergung. Während große Säugetiere über viele Generationen hinweg auf Inseln eine deutliche Abnahme ihrer Körpergröße zeigen, wie zum Beispiel der Borneo-Zwergelefant, neigen kleine Nagetiere hingegen zu Riesenwuchs.

Auf der Gough-Insel im Süd-Atlantik ist eine Mauspopulation inzwischen so groß, dass sie Albatros-Küken angreift. Der Forscher Yingguang Frank Chan, Ph.D., macht sich nun im Rahmen seiner zweijährigen Postdoktorandenförderung am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön daran, das Geheimnis der Riesenmäuse zu lüften. Der Titel seines Projekts lautet „(re)Tracing the genetics of adaptation – parallel size increases of house mice on islands“. Die VolkswagenStiftung unterstützt seine Arbeit mit 165.000 Euro.

Über die genetischen Grundlagen von Anpassungsmechanismen wie dem Insel-Riesenwuchs ist bislang wenig bekannt, bisherige Forschungsansätze sind zumeist auf die statistische Analyse historischer Ereignisse beschränkt. Mäuse im Zusammenhang mit Gigantismus eignen sich für Yingguang Frank Chan besonders gut dafür, diese Wissenslücke zu füllen. Zum einen wurde dieser Effekt bei Mäusen mehrfach unabhängig voneinander beobachtet, zum anderen kann er unter kontrollierten Bedingungen im Labor künstlich repliziert werden. Chan wird im Rahmen seiner Arbeit zunächst eine Population von Labormäusen untersuchen, die bereits seit 1975 über 134 Generationen hinweg zu Riesenwuchs gezüchtet wurden. Mithilfe einer genetischen Kartierungsmethode sollen die Veränderungen im Erbgut, die zum Riesenwuchs führten, identifiziert werden. In der Folge wird die gleiche Methode bei einer Riesenmauspopulation von den Färöer-Inseln angewandt. Schließlich werden die Ergebnisse der „natürlichen“ mit den „künstlichen“ kleinen Giganten verglichen. So erhofft sich Chan eine Antwort auf die Frage, ob die genetische Anpassung/Veränderung als Reaktion auf den Selektionsdruck (Größer-Werden ist ein Vorteil) einem vorhersagbaren Weg folgt und welche Gene beziehungsweise Mutationen dabei bevorzugt werden.

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Email: frank.chan@evolbio.mpg.de
Die „soziale Immunabwehr“ der Mehlkäfer
Beim Gedanken an Mehlkäfer kommt den meisten vermutlich eines ganz bestimmt nicht in den Sinn: Sauberes Mehl. Tatsächlich aber halten die Insekten das Mehl rein, in dem sie bestimmte Stoffe, so genannte Quinone, an ihre Umgebung abgeben, die über eine breite antimikrobielle Wirkung verfügen. In vergangenen Experimenten konnte gezeigt werden, dass diese Quinon-Sekretion eine Form von gemeinschaftlicher Immunabwehr ist, die der ganzen Gruppe im Mehl befindlicher Käfer eine weniger krank machende Umgebung beschert.

Allerdings konnte die Evolutionsökologin Dr. Gerrit Joop in einer früheren Arbeit zeigen, dass die Quinon-Sekretion dem eigenen Nachwuchs, den Mehlkäferlarven, schadet und zudem noch das eigene interne Immunsystem der elterlichen Insekten schwächt. Dennoch scheint sich dieses Verhalten auszuzahlen: Die Überlebensrate der Larven mit Quinonen ist deutlich höher als in einer quinonfreien Umgebung, in der Parasiten ungebremst ihre schädigende Wirkung entfalten können. Offenbar können die elterlichen Immunstoffe die negativen Effekte von Parasiten vollständig eliminieren – der Schaden für die Larven wird dabei als notwendiges Übel in Kauf genommen.

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wird Dr. Gerrit Joop ihre Untersuchungen für fünf Jahre als „advanced phase“ Postdoktorandin am Zoologischen Institut der Universität Kiel mit einer eigenen Arbeitsgruppe fortführen. Das Projekt trägt den Titel „Corporate and individual immunity – understanding their relationship in an non-social insect, Tribolium castaneum“ und wird von der VolkswagenStiftung mit 817.500 Euro gefördert. Die Forscherin kombiniert dabei Konzepte und Methoden aus Ökologie, Immunologie, theoretischer Biologie und Biomechanik.

Dr. Gerrit Joop wird im Rahmen dieses Projekts die antimikrobielle Wirkung im Detail untersuchen. Welche schädlichen Mikroben werden durch die Stoffe besonders effektiv bekämpft und können diese auch für die Entwicklung neuer Antibiotika in der Medizin genutzt werden? Zudem möchte die Wissenschaftlerin die Frage klären, ob es sich bei diesem „externen Immunsystem“ tatsächlich auch um ein soziales, altruistisches Verhalten handelt, wie man es von staatenbildenden Insekten wie Ameisen und Bienen kennt. Denn bei den eindeutig nicht sozial lebenden Mehlkäfern sollte man im Sinne der Evolutionstheorie erwarten, dass sich langfristig nur egoistisches, dem einzelnen Individuum förderliches Verhalten in der Population durchsetzt: In diesem Fall also Mehlkäfer, die auf die Quinon-Sekretion pfeifen und lieber in das eigen Immunsystem investieren.

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Email: gerrit.joop@env.ethz.ch
Wettrüsten unter Wasser
Es könnte alles so schön sein: Zwei verschiedene Arten leben zum gegenseitigen Nutzen zusammen in einer engen Symbiose. Genau so beobachten es Meeresbiologen beim Clownfisch und der Seeanemone. Durch eine Schleimschicht vor den giftigen Nesselzellen der Anemone geschützt, genießt der Clownfisch einen sicheren Zufluchtsort zwischen ihren Tentakeln und im Gegenzug liefert er seiner lebenden Behausung Futter und fungiert zudem als Reinigungskraft. Doch nicht alle Interaktionen zwischen Arten sind so fair: Parasiten wie etwa Saugwürmer nutzen ihren Wirt aus und steigern die eigene Fitness auf Kosten der Gesundheit des befallenen Organismus.

Die parasitische Beziehung ist geprägt von einem stetigen Wettrüsten: Der Parasit verbessert seine „Angriffsmechanismen“ um den Zielorganismus noch effektiver auszunutzen und sich weiter zu verbreiten, der Wirt dagegen baut seine Abwehr aus. Im Rahmen ihres Doktoranden-Stipendiums mit dem Titel „The effect of global change on host-parasite interactions and coevolution of the deepsnouted pipefish (Syngnathus typhle) and its parasite (Cryptocotyle lingua)“ wird die Umweltnaturwissenschaftlerin Susanne Landis die Beziehung zwischen der Grasnadel, einem Fisch aus der Familie der Seenadeln, und einem parasitischen Saugwurm aus dem Stamm der Plattwürmer näher untersuchen. Sie wird dabei einen Faktor unter die Lupe nehmen, der das Rennen zu Gunsten einer Seite entscheiden könnte: Die globale Erwärmung. Für drei Jahre kann sie am Leibniz-Institut für Meereswissenschaften an der Universität Kiel (IFM-GEOMAR) und der Universität Uppsala in Schweden forschen und wird dabei von der VolkswagenStiftung mit 190.300 Euro unterstützt.

Der parasitische Wurm nutzt den Fisch als Durchgangsstation auf seinem Weg in den Körper des Endwirts – einem Seevogel, der den Fisch samt Parasit gefressen hat – wo er sich schließlich sexuell fortpflanzen kann. In Europa erstreckt sich das Verbreitungsgebiet der Grasnadel von der Küste Norwegens bis nach Südportugal. Für die Arbeit von Susanne Landis eignet sich dieser Fisch deshalb ganz besonders gut zur Untersuchung der Auswirkungen der globalen Erwärmung auf parasitische Systeme, denn der Lebensraum der Grasnadel zeigt einen natürlichen Nord-Süd-Gradienten in der Wassertemperatur von kalt nach warm. Die junge Forscherin möchte durch ausgedehnte Feldstudien an Tieren aus den verschiedenen Temperaturzonen untersuchen, ob und wie sich das System Wirt-Parasit als Anpassung an die Wassertemperatur entwickelt hat, wie stark die jeweiligen Proben vom Parasit befallen sind und wie sich beide Organismen im Zuge ihrer Koevolution genetisch verändert haben. In Laborexperimenten wird Susanne Landis in der Folge die für das laufende Jahrhundert prognostizierte Erwärmung simulieren und deren Auswirkung auf Verhalten und Erbgut von Parasit und Wirt sowie die Vermehrungs- und Infektionsraten erforschen. Durch die gewonnen Daten erhofft sich die Wissenschaftlerin einen Blick in die Zukunft und eine Antwort auf die Frage: Wer wird im Wettrüsten vom Klimawandel mehr profitieren, Wirt oder Parasit?

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Email: slandis@ifm-geomar.de
Hintergrund: Die Förderinitiative „Evolutionsbiologie“
Mit der Initiative „Evolutionsbiologie“ fördert die VolkswagenStiftung junge Forscherpersönlichkeiten mit dem Ziel, die Evolutionsbiologie in Deutschland zu stärken und den exzellenten Nachwuchs langfristig zu binden. Das Förderangebot wurde nun umgestaltet und damit auf die Unterstützung von Postdoktoranden fokussiert. Das Programm ist auf Wissenschaftler/innen in der Karrierephase von ein bis fünf Jahren nach der Promotion ausgerichtet und ermöglicht eine Förderdauer von drei bis fünf Jahren. Hierdurch soll Nachwuchswissenschaftler/innen Perspektiven für eine akademische Laufbahn in Deutschland eröffnet werden. Nächster Stichtag für Förderanträge ist voraussichtlich der 15. Oktober 2010.

Kontakt VolkswagenStiftung

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Jens Rehländer
Telefon: 0511 8381 – 380
E-Mail: presse@volkswagenstiftung.de
Förderung
Dr. Henrike Hartmann
Telefon: 0511 8381 – 376
E-Mail: hartmann@volkswagenstiftung.de

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