Seltener genetischer Defekt im Fischmodell nachgestellt
Heidelberger Wissenschaftlern gelingt Modellierung einer komplexen Stoffwechselstörung.
Ein seltener genetischer Defekt, der das sogenannte ALG2-Gen betrifft, kann beim Menschen zu schweren Stoffwechselerkrankungen führen. Sie sind auf eine fehlerhafte Bindung von Proteinen und Zuckermolekülen zurückzuführen. Bislang war es aufgrund ihrer Seltenheit und Komplexität schwierig, diese angeborene Glykosylierungsstörung zu erforschen. Einem Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Joachim Wittbrodt und Dr. Thomas Thumberger vom Centre for Organismal Studies (COS) der Universität Heidelberg ist es nun gelungen, die zugrundeliegende Mutation im ALG2-Gen auf ein Fischmodell zu übertragen. Damit wird es möglich, die Ursachen solcher komplexen Erkrankungen auf molekularer Ebene zu erforschen.
Menschliche Zellen werden durch die Aktivität von Millionen von Proteinen am Leben erhalten. Diese Proteine müssen bei ihrer Reifung auf unterschiedlichste Art und Weise modifiziert werden, so auch durch ihre Bindung an Zuckermoleküle – eine Veränderung, die für die korrekte Funktion der Proteine unerlässlich ist. Störungen beim Prozess dieser Zuckerübertragung, auch als Zuckerdekoration bezeichnet, führen oft bereits in frühen Entwicklungsstadien zum Tod eines Organismus. Wie Prof. Wittbrodt erläutert, findet diese Zuckerübertragung in seltenen Fällen aufgrund eines genetischen Defekts nur vermindert statt, wodurch das klinische Bild der angeborenen Erkrankung der Glykosylierung auftritt.
„Für die korrekte Proteinglykosylierung bedarf es einer Vielzahl an Enzymen, die wie ein Uhrwerk aufeinander abgestimmt funktionieren müssen“, so der Wissenschaftler. Eine besonders wichtige Aufgabe kommt dabei dem ALG2-Gen zu. Es codiert ein Enzym, das für die korrekte Verzweigung der Zuckerkette notwendig ist. Ist dieser Prozess gestört, kommt es bei den Patienten im Kleinkindalter trotz einer bis dahin normalen Entwicklung zu Problemen in unterschiedlichen Organen wie den Augen, dem Gehirn und den Muskeln.
Mithilfe der Genschere CRISPR/Cas9 konnte das Team von Prof. Wittbrodt und Dr. Thumberger nun eine ALG2-Mutation im Fischmodell nachstellen. Hierfür nutzten die Wissenschaftler den auch als Medaka bekannten japanischen Reiskärpfling. „Fische eignen sich besonders gut für die Modellierung von Krankheitsbildern, da die Embryonalentwicklung außerhalb der Mutter stattfindet und wir dadurch die sich entwickelnden Defekte direkt analysieren können“, erläutert Dr. Thumberger. Das Genom des japanischen Reisfisches lässt sich zudem sehr effizient und präzise verändern. „Unsere Fische sind sozusagen genetische Zwillinge, wodurch sich der Einfluss einzelner Veränderungen im Vergleich zu nicht genetisch-veränderten Fischen unmittelbar feststellen lässt.“
Obwohl eine große evolutionäre Distanz zwischen Fisch und Mensch besteht, zeigten sich nach Angaben der Forscher auch im Fischmodell viele der Symptome, die für ALG2-Patienten beschrieben wurden – darunter auch bestimmte neuronale Defekte. Überraschend waren für die Wissenschaftler die Ergebnisse, die die Analyse des Medaka-Gesamtorganismus erbrachte. Dabei wurde das volle Spektrum unterschiedlicher Zelltypen berücksichtigt.
„Obwohl alle Zellen des Fisches die gleiche reduzierte ALG2-Aktivität aufwiesen, waren einige Zelltypen stärker betroffen als andere“, sagt Prof. Wittbrodt. So zeigte sich etwa ein fortschreitender Verlust der Stäbchenzellen in der Netzhaut des Fischauges, die dem Sehen in der Dämmerung dienen. Die für das Sehen in Farbe wichtigen Zapfenzellen blieben hingegen erhalten – die Fische wurden nachtblind. Die Wissenschaftler wollen nun die Proteine identifizieren, die durch eine reduzierte Zuckerbindung zum Absterben der Stäbchenzellen führen.
„Unsere Untersuchungen mit dem Medaka-Fischmodell haben gezeigt, dass sich alle Symptome durch die Gabe von voll funktionsfähiger ALG2-mRNA, also der Blaupause zur Herstellung des korrekten ALG2-Enzyms, aufheben ließen. Wir konnten den genetischen Defekt im Fischmodell effektiv umkehren. Das bedeutet, dass wir nun systematisch die einzelnen Funktionsbereiche des ALG2-Enzyms analysieren können. Besonders interessiert uns die zelltypspezifische Antwort im organismischen Kontext“, betont Joachim Wittbrodt. Darauf aufbauend plant das Heidelberger Forscherteam, die molekularen Mechanismen und Ursachen für die Entstehung solcher komplexer Stoffwechselerkrankungen beim Menschen zu untersuchen.
Neben dem Heidelberger Team am COS waren auch Wissenschaftler des Zentrums für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH), des Universitätsklinikums Heidelberg sowie des Max-Planck-Instituts für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg an der Studie beteiligt. Die Forschungsarbeiten wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Development“ veröffentlicht.
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Prof. Dr. Joachim Wittbrodt
Centre for Organismal Studies
Telefon (06221) 54-6499
jochen.wittbrodt@cos.uni-heidelberg.de
Originalpublikation:
S. Gücüm, R. Sakson, M. Hoffmann, V. Grote, C. Becker, K. Pakari, L. Beedgen, C. Thiel, E. Rapp, T. Ruppert, T. Thumberger, J. Wittbrodt: A patient-based medaka alg2 mutant as a model for hypo-N-glycosylation. Development (9 June 2021), https://doi.org/10.1242/dev.199385
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