So regenerieren Meereswürmer verlorene Körperteile
Die Rückkehr von Zellen in einen stammzellähnlichen Zustand als Schlüssel zur Regeneration.
Viele Lebewesen sind in der Lage, beschädigtes oder verlorenes Gewebe zu regenerieren, aber warum einige das besonders gut können und andere nicht, ist nicht restlos geklärt. Einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieser Frage lieferten nun die Molekularbiolog*innen Alexander Stockinger, Leonie Adelmann und Florian Raible von den Max Perutz Labs an der Universität Wien in einer neuen Studie. Darin erklären sie den molekularen Mechanismus der Regeneration bei Meereswümern und schaffen damit besseres Verständnis für die natürliche Reprogrammierungsfähigkeit von Zellen. Die Studie ist aktuell im renommierten Fachmagazin Nature Communications erschienen.
Abb. 1: Von links nach rechts: Max Perutz Labs Gruppenleiter Florian Raible, Erstautor*innen und Doktorand*innen Alexander Stockinger und Leonie Adelmann. C: Max Perutz Labs
Die Fähigkeit zur Regeneration – von einzelnen Zelltypen bis hin zu ganzen Organen oder komplexen Geweben – ist für alle lebenden Arten von entscheidender Bedeutung. Auch der menschliche Körper regeneriert sich, kurz gesagt werden dabei abgestorbene Zellen durch neu produzierte ersetzt. Beim Menschen ist das zum Beispiel in der Darmschleimhaut oder der Leber der Fall. Andere Lebewesen haben aber noch viel stärkere Regenerationsfähigkeiten. So etwa Ringelwürmer wie Platynereis dumerilii: Diese können ganze Teile ihres Hinterkörpers nach Verletzungen regenerieren. Die molekularen Mechanismen, die diesen Prozess steuern, waren bisher kaum bekannt. Eine neue Studie unter Leitung des Molekularbiologen Florian Raible von den Max Perutz Labs an der Universität Wien bringt nun neue Erkenntnisse. Damit schaffen die Wissenschafter*innen nicht nur ein besseres Verständnis für die Biologie im Allgemeinen, sondern auch für die natürliche Reprogrammierungsfähigkeit von Zellen.
Das Wachstum neuer Segmente (Körperteile) bei den Meereswürmern wird durch eine spezielle Sprossungszone gesteuert, in der sich besondere Stammzellen befinden, aus deren Teilung dann die Segmente hervorgehen. Aber was passiert, wenn eben jene Sprossungszone durch eine Verletzung verloren geht? In ihrer neuen Studie zeigen die Erstautor*innen Alexander Stockinger und Leonie Adelmann zusammen mit dem Team des Raible-Labors, durch welche molekularen Mechanismen eine verlorene Sprossungszone erneuert werden kann, sodass die Meereswürmer wieder neue Segmente bilden können. Das Besondere bei Platynereis dumerilii: Im Gegensatz zu anderen Arten greift die Regeneration beim Meereswurm nicht auf existente Stammzellen zurück. Stattdessen unterziehen sich nach der Entfernung der Sprossungszone spezialisierte Zellen einer sogenannten Dedifferenzierung. „Das heißt, dass diese Zellen bereits innerhalb weniger Stunden beginnen, in einen stammzellähnlichen Zustand zurückzukehren, um schnellstmöglich eine neue Sprossungszone aufzubauen“, erklärt Leonie Adelmann, eine der beiden Erstautor*innen der Studie.
Abb. 2: Die Visualisierung spezifischer Transkripte (grün, magenta) bestätigte die Identifizierung verschiedener Stammzellpopulationen, die sich in regenerierenden Wurmschwänzen vermehren (cyan). C: Leonie Adelmann
Die Forscher*innen fanden außerdem heraus, dass sich die Genexpression in diesen neu gebildeten Stammzellen tatsächlich von ihren Vorläuferzellen unterscheidet. „Spannenderweise spielen hier auch Faktoren wie die Transkriptionsfaktoren Myc und Sox2 eine Rolle, die man auch in der modernen Medizin nutzt, um aus spezialisierten menschlichen Zellen Stammzellen herzustellen“, so Alexander Stockinger, der andere Erstautor der Studie.
„Das Konzept der Dedifferenzierung wurde bereits vor über 60 Jahren vorgeschlagen, aber den Forscher*innen fehlten damals die Instrumente, um diese Idee zu testen. Jetzt haben wir Werkzeuge entwickelt, um die Dedifferenzierung auf molekularer Ebene zu verstehen und sie mit dieser sogenannten „Reprogrammierung“ von Zellen in der modernen Medizin zu vergleichen. Das schafft eine solide Grundlage für zukünftige Studien“, fasst Florian Raible, Leiter der Arbeitsgruppe an der Universität Wien, zusammen.
Eine besondere Strategie der Wissenschafter*innen war die Erforschung der Zellzustände mit der neuen Methode der Einzelzell-RNA-Sequenzierung. Diese Technik lieferte einen neuartigen Datensatz zur Untersuchung der Geweberegeneration. „Die Einzelzell-Transkriptomik ermöglicht es uns, Zelltypen und ihre Zustände zu identifizieren und aufzuzeigen, wie sie auf individueller Ebene auf den Verlust von Körperteilen reagieren. In unserer Studie haben wir diese Technik zusätzlich mit Daten von französischen Kolleg*innen kombiniert, die durch die fluoreszente Markierung von Zellen halfen, aufzudecken, welche Gewebe letztlich aus bestimmten Stammzellen hervorgehen“, erklärt Stockinger. „Dabei haben wir mindestens zwei verschiedene Stammzellpopulationen entdeckt – eine, die Gewebe wie Epidermis und Neuronen regeneriert, und eine andere, die Muskeln und Bindegewebe bildet“, so Adelmann.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Assoz. Prof. Florian Raible
Max Perutz Labs, Universität Wien
1030 Wien, Dr.-Bohr-Gasse 9
T +43 664 8176825
florian.raible@univie.ac.at
www.univie.ac.at
Originalpublikation:
Stockinger AW, Adelmann L, Fahrenberger M, Ruta C, Özpolat BD, Milivojev N, Balavoine G, Raible F. Molecular profiles, sources and lineage restrictions of stem cells in an annelid regeneration model. Nat Comms.
DOI: 10.1038/s41467-024-54041-3
https://doi.org/10.1038/s41467-024-54041-3
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