„Spionieren“ der versteckten Geometrie komplexer Netzwerke mit Hilfe von Maschinenintelligenz
Archimedes stellte sich vor, dass eine Netzwerkstruktur – ein Polygon bestehend aus Dreiecken -, die durch Abtastung des geometrischen Gesetzes eines Kreises entsteht, ein nützliches Hilfsmittel zur Annäherung von Eigenschaften wie der Fläche des ursprünglichen Kreises ist. Fast 2000 Jahre später ist ein faszinierendes und herausforderndes Problem der Netzwerkwissenschaft konzeptionell das Problem umgekehrt zu dem von Archimedes und besteht darin, ein Netzwerk wieder auf die ursprüngliche Geometrie abzubilden.
Dr. Cannistraci und seine Kollegen entdeckten, dass intelligente Maschinen zur unbeaufsichtigten Erkennung und Visualisierung von Ähnlichkeiten in großen Datenmengen dazu beitragen können, eine rechnerische Lösung für dieses Problem anzubieten, insbesondere wenn die versteckte Geometrie der komplexen Netzwerke hyperbolisch ist.
Mit dem Beginn der Ära der Big Data und dem Aufkommen der Netzwerkwissenschaften werden komplexe physikalische Systeme immer mehr aus der Netzwerkperspektive betrachtet. Seit einigen Jahren ist die Netzwerkgeometrie ein aufstrebender Zweig, der die Idee unterstützt, dass reale Netzwerke Diskretisierungen kontinuierlicher geometrischer Räume sind und diese latenten Räume ihre topologischen Eigenschaften formen.
Insbesondere hat sich gezeigt, dass der hyperbolische Raum die wichtigsten strukturellen Merkmale reproduziert, die in realen Systemen beobachtet werden. Eine effiziente Methode, um die latente hyperbolische Geometrie der Netzwerke aufzudecken, bietet jetzt die „Koaleszenz-Einbettung „, ein von Dr. Cannistraci erfundener Algorithmus, der von der Biomedical Cybernetics Group entwickelt und getestet wurde.
Eine Koaleszenz-Einbettung kann auf jede Art eines als Netzwerk darstellbaren physischen Systems angewendet werden, da sie nur die Netzwerktopologie benötigt. Diese wird durch die interagierenden Teile des Systems (Knoten) und die Verbindungen zwischen ihnen (Links) repräsentiert. Es werden keine feldspezifischen Informationen benötigt. Der Algorithmus nutzt unbeaufsichtigte Techniken des maschinellen Lernens zur Verminderung der Dimensionalität, um die Ähnlichkeiten zwischen den Knoten genau abzuleiten, und er liefert in der Ausgabe die hyperbolische Einbettung des Netzwerks:
Jeder Knoten wird einer geometrischen Position im hyperbolischen Raum zugeordnet, so dass geometrisch nahe liegende Knoten eher interagieren. Die Koaleszenz Einbettung reduziert die Rechenzeit im Vergleich zu bisher entwickelten Methoden erheblich, sie kann Netzwerke auf Räume von mehr als zwei Dimensionen abbilden und, wenn sie verfügbar sind, zusätzliche Informationen über die Stärke der Wechselwirkungen nutzen.
Die Abbildung des Netzwerkes in den geometrischen Raum erlaubt es, mehrere Studien durchzuführen, die in der ursprünglichen Topologie möglicherweise nicht gleich wirksam sind. Anwendungsbeispiele sind die Detektion von Communities in sozialen Netzwerken, die Vorhersage von Protein-Protein-Interaktionen in biologischen Netzwerken und die Analyse des Routing in Internet-Netzwerken.
In einer kürzlich von Dr. Cannistraci geleiteten neurowissenschaftlichen Studie, die bereits als Vordruck auf dem arXiv-Repository verfügbar ist (Koaleszenz-Einbettung im hyperbolischen Raum enthüllt unbeaufsichtigt die versteckte Geometrie des Gehirns), wurde die Koaleszen-Einbettung auf strukturelle MRT-Hirn-Connectome untersucht.
Dabei wurde unter anderem die interssante Entdeckung gemacht, dass in den Connctomen von Parkinson-Patienten pathologische Veränderungen auftreten. Dies eröffnet eine neue Perspektive für die Realisierung von Netzwerkmarkern auf Grundlage von latenter Geometrie für die Diagnose von Hirnstörungen und -krankheiten.
Experimente in vielen Netzwerken zeigten, dass unser Algorithmus in der Lage ist, in wenigen Sekunden eine genauere Einbettung zu ermöglichen, als die, die durch frühere Techniken nach stundenlangem Rechnen erreicht wurde. Dies ebnet den Weg zur Untersuchung von Großsystemen“, erklären Alessandro Muscoloni und Josephine Maria Thomas, die Erstautoren dieser Studie.
„Als ich 2016 die ersten Ergebnisse bei der jährlichen Netzwerk-Wissenschaftskonferenz in Korea präsentierte, konnten einige meiner Kollegen nicht glauben, dass es möglich war – dass unbeaufsichtigte Maschinenintelligenz tatsächlich eine genaue rechnerische Lösung für dieses faszinierende Netzwerkgeometrieproblem bieten kann. Ich hoffe, dass dieser Artikel viele Wissenschaftler inspirieren wird, sich ‚unkonventionelle‘ Lösungen für Probleme in der Physik komplexer Systeme vorzustellen, bei denen die Maschinenintelligenz eine wichtige Rolle als ergänzendes Werkzeug zur Integration mit der klassischen statistischen Mechanik spielen kann“, sagt Carlo Vittorio Cannistraci, der korrespondierende Autor dieser Studie.
Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit Prof. Ginestra Bianconi von der School of Mathematical Sciences, Queen Mary University of London (UK) und unter Beteiligung des Brain Bio-Inspired Computing (BBC) Labors, des IRCCS Centro Neurolesi „Bonino Pulejo“, Messina, Italien, durchgeführt. Die Förderung erfolgte durch: den Independent Group Leader Starting Grant der Technischen Universität Dresden (TUD); die Klaus Tschira Stiftung (KTS) gGmbH, Deutschland (Grant-Nr.: 00.285.2016); den Forschungspool (Forschungspoolantrag) der TUD; die Lipotype GmbH, Deutschland; den Freistaat Sachsen nach der Sächsischen Stipendienprogrammverordnung (vergeben vom Studentenwerk Dresden auf Empfehlung des Vorstandes des Graduiertenkollegs).
Carlo Vittorio Cannistraci ist Theoretischer Ingenieur. Seit Februar 2014 ist er Junior-Gruppenleiter der Gruppe „Biomedizinische Kybernetik“ am BIOTEC und seit 2016 TUD-Nachwuchswissenschaftler im Fachbereich Physik der TU Dresden. Zu seinen Forschungsinteressen gehört die Erforschung der Schnittstelle zwischen der Physik komplexer Systeme, komplexer Netzwerke und der Theorie des maschinellen Lernens.
Alessandro Muscoloni promoviert derzeit in der Gruppe von Dr. Cannistraci. Er studiert Netzwerkwissenschaftstheorie und maschinelle Lerntechniken zur Erforschung und Analyse großer Datenmengen.
Josephine Maria Thomas ist Postdoc und interessiert sich für die Übersetzung von Prinzipien aus fundamentalen physikalischen Theorien in angewandte Netzwerkwissenschaften. Kürzlich promovierte sie im Labor von Dr. Cannistraci zur Physik komplexer Netzwerke.
Publikation
“Machine learning meets complex networks via coalescent embedding in the hyperbolic space”
Alessandro Muscoloni, Josephine Maria Thomas, Sara Ciucci, Ginestra Bianconi and Carlo Vittorio Cannistraci
Nature Communications 8, Article number: 1615 (2017)
DOI: 10.1038/s41467-017-01825-5
Informationen für Journalisten:
Franziska Clauß, M.A.
Pressesprecherin
Tel.: +49 351 458 82065
E-Mail: franziska.clauss@tu-dresden.de
Das Biotechnologische Zentrum (BIOTEC) wurde 2000 als zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Technischen Universität Dresden mit dem Ziel gegründet, modernste Forschungsansätze in der Molekular- und Zellbiologie mit den in Dresden traditionell starken Ingenieurswissenschaften zu verbinden. Innerhalb der TU Dresden nimmt das BIOTEC eine zentrale Position in Forschung und Lehre mit dem Schwerpunkt „Molecular Bioengineering und Regenerative Medizin“ ein, seit 2016 ist es ein Institut der zentralen wissenschaftlichen Einrichtung “Center for Molecular and Cellular Bioengineering” (CMCB). Das BIOTEC trägt damit entscheidend zur Profilierung der TU Dresden im Bereich moderner Biotechnologie und Biomedizin bei. Die Forschungsschwerpunkte der internationalen Arbeitsgruppen bilden die Zellbiologie, Nanobiotechnologie und die Bioinformatik.
https://www.nature.com/articles/s41467-017-01825-5
http://www.tu-dresden.de/biotec
Media Contact
Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie
Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.
Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.
Neueste Beiträge
Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen
An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…
Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean
20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….
Resistente Bakterien in der Ostsee
Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…