Teamwork in der Zelle
Das Zellskelett ist eine Dauerbaustelle: Es besteht aus Proteinfasern, die sich ständig dynamisch verlängern und verkürzen. Durch diese Umbauten kann die Zelle ihre Gestalt verändern oder sich bewegen.
So lenkt sie elementare Prozesse wie die Zellteilung oder Zelldifferenzierung oder auf höherer Ebene im Organismus Vorgänge wie die Embryonalentwicklung oder Wundheilung. Läuft auf den Zellskelettbaustellen etwas schief – zum Beispiel, wenn sich die Proteinfasern an der falschen Stelle zum falschen Zeitpunkt umbauen – führt dies zu Krankheiten.
Ein solcher Fehler in der räumlich-zeitlichen Kontrolle ist auch die Ursache dafür, dass metastasierende Krebszellen im Körper auf Wanderschaft gehen.
Forschende am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) und an weiteren Instituten, wie dem EMBL-EBI in Hinxton in Großbritannien, haben untersucht, wie eine Familie von 145 Proteinen diese Umbaumaßnahmen am richtigen Ort und zur richtigen Zeit veranlassen.
Diese Regulatorproteine haben Wissenschaftler*innen bislang nur in Einzelstudien erforscht, nur wenige Eiweiße wurden bereits charakterisiert. „Um derart komplexe Vorgänge wie Zellformveränderungen zu verstehen, müssen wir wissen, wie die Regulatorproteine im Kollektiv zusammenarbeiten. Es fehlte bislang sozusagen ein Blick aus der Vogelperspektive“, sagt Dr. Oliver Rocks, Leiter der Arbeitsgruppe „Räumlich-zeitliche Kontrolle der Rho-Protein-Signalwege“ am MDC und verantwortlicher Autor einer neuen Studie in der Fachzeitschrift nature cell biology.
Seine Arbeitsgruppe mit den Erstautor*innen Dr. Paul M. Müller und Dr. Juliane Rademacher hat gemeinsam mit der Gruppe von Dr. Evangelia Petsalaki am EMBL-EBI und einem internationalen Forschungsteam nun all diese Regulatorproteine systematisch charakterisiert. So konnte das Team zeigen, dass es innerhalb der Zelle verschiedene Signalzonen gibt, die das Zellskelett in Raum und Zeit koordinieren und wie diese Zonen entstehen und aufrechterhalten werden.
Ein neuer Blickwinkel dank umfangreicher Datenbank
Auf der Zellskelettbaustelle geben die Rho-GTPase-Proteine den Ton an. Sind diese molekularen Schalter aktiviert, senden sie Befehle an die Maschinerien auf den Baustellen. Es gibt wiederum 145 Regulatorproteine, die diese molekularen Schalter steuern: RhoGEF-Proteine schalten sie ein, RhoGAP-Proteine schalten sie aus.
Rocks und sein Team haben sich all diese Regulatoren nun zum ersten Mal systematisch angeschaut und eine Art Bibliothek erstellt. Forschende auf der ganzen Welt können nun darauf zugreifen und für jedes einzelne Protein nachschauen, welche molekularen Schalter es steuert, wo in der Zelle es vorkommt und welche Bindungspartner es hat.
Die umfangreichen Informationen in der Protein-Bibliothek erlauben erstmals eine Analyse der Proteine auf der Systemebene, d.h. einen Blick aus der Vogelperspektive. So sind neue kollektive Eigenschaften der Regulatoren zutage getreten, die zuvor unsichtbar waren. Auf diese Weise haben Forschende einen neuen Mechanismus entdecken, der erklärt, wie Zellmigration gesteuert wird.
Fokale Adhäsionen steuern die Balance zweier gegensätzlicher Prozesse
Bekannt war, dass zwei gegensätzliche, vom Zellskelett gesteuerte Prozesse räumlich voneinander getrennt in der Zelle stattfinden müssen, damit sich die Zelle fortbewegen kann: Zellvorschub und Zellkontraktion. Auf der einen Baustelle an der Zellfront geben die molekularen Schalter den Befehl für Zellvorschub in Migrationsrichtung.
Weiter dahinter, Richtung Zellinneres, lösen sie eine Kontraktion des Zellskeletts aus. Wie Rho-GTPasen diese beiden räumlich voneinander getrennten Prozesse koordinieren, war eine zentrale Frage im Forschungsfeld, mit der sich das Team am MDC beschäftigt hat.
Möglich sei die räumliche Organisation der zwei gegensätzlichen Prozesse durch fokale Adhäsionen, erklärt Rocks. Dies sind direkt unterhalb der Zellmembran gelegene Ansammlungen von Proteinen, die die Zelle mit der Umgebung verankern.
Fokale Adhäsionen entstehen nahe der Zellfront, reifen zu stabileren Strukturen und lösen sich letztlich wieder auf. Da die Zelle während der Migration über fokale Adhäsionen hinwegwandert, bewegen sich diese relativ zur Zelle von der Front zur Mitte hin.
„Die Zelle nutzt aus, dass die fokalen Adhäsionen ihren Ort verändern“, sagt Rocks. Sein Team habe zunächst einmal erstaunlich viele Regulatorproteine auf diesen Strukturen entdeckt. „Die eigentliche Überraschung aber war, dass wir an neu gebildeten fokalen Adhäsionen am Zellrand nahezu ausschließlich eine bestimmte Untergruppe von Regulatoren gefunden haben und eine andere Untergruppe, getrennt davon, auf reifen Strukturen Richtung Zellmitte.“
Diese Untergruppen kontrollieren die oben genannten gegensätzlichen Zellskelettprozesse und so entstünden die räumlich voneinander getrennten Signalzonen. Die Forschenden konnten zudem zeigen, dass beide Prozesse durch mechanische Kräfte in der Zelle gekoppelt werden, welche die Anzahl neu gebildeter und reifer fokaler Adhäsionen ausbalancieren können.
Als nächstes plant Rocks zu untersuchen, wie genau das Kollektiv der Rho-GTPase-Regulatoren auf den fokalen Adhäsionen mit der Zellskelettmaschinerie kommuniziert, ob das Prinzip der räumlichen Trennung dieser Proteine auch auf anderen Zellstrukturen eine Rolle spielt und wie eine fehlerhafte Funktion der Regulatoren letztendlich Krankheiten verursacht.
Diesen systemischen Blick auf die Regulation der Zellform zu erlangen sei eine große Anstrengung gewesen, findet Rocks. „Er war aber zwingend notwendig, um das Forschungsgebiet zu beleben und konzeptuell neue Forschungsansätze zu eröffnen“, sagt der Forscher. Die Datensammlung und Protein-Bibliothek stehen nun allen Wissenschaftler*innen weltweit zur Verfügung.
Dr. Oliver Rocks
oliver.rocks@mdc-berlin.de
Müller, Paul M. et al. (2020): “Systems analysis of RhoGEF and RhoGAP regulatory proteins reveals spatially organized RAC1 signalling from integrin adhesions”, nature cell biology, DOI: 10.1038/s41556-020-0488-x
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