Überraschungen im Zellzyklus
Der Zellzyklus koordiniert die Zellteilung – und er hat sich so entwickelt, dass er möglichst einfach abläuft, indem schlichtweg das Fehlerpotenzial minimiert wurde. Zu diesem Schluss kommt ein interdisziplinäres Forschungsteam des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) im Fachjournal Molecular Systems Biology.
Zellen vermehren sich, indem sie einen Zyklus mit vier Phasen durchlaufen: Sie wachsen, vervielfältigen ihre genetischen Informationen, bereiten sich auf die Zellteilung vor und teilen sich schließlich in zwei Zellen. In Lehrbüchern wird dies in der Regel ohne besonderen wissenschaftlichen Hintergrund durch einen einfachen Kreis dargestellt. Zum ersten Mal zeigt nun eine Studie, dass diese Darstellung tatsächlich gerechtfertigt ist, da Zellen ein kreisförmiges Genexpressionsmuster aufweisen, während sie den Zellzyklus durchlaufen. Das ist kein Zufall, zeigt die neue Studie; dieses Muster reduziert die Anzahl der möglichen Fehler während des Prozesses deutlich – eine evolutionäre Glanzleistung.
„Der Zellzyklus ist einer der am besten untersuchten Prozesse in der Biologie“, sagt Professor Nikolaus Rajewsky, wissenschaftlicher Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC. „Die Leistungsfähigkeit der ultratiefen Sequenzierung einzelner Zellen in Kombination mit rechnergestützten Ansätzen hat es uns ermöglicht, den Zellzyklus ganz genau zu betrachten. Das Ergebnis waren neue, gänzlich unerwartete Erkenntnisse.“
BIG Data
Die Ergebnisse sind Rajewsky und den Molekularbiolog*innen seiner Arbeitsgruppe „Systembiologie von Gen-regulatorischen Elementen“ am BIMSB, dem MDC-Standort in Berlin Mitte, zu verdanken, die sich mit einem Physiker und einem Mathematiker der Arbeitsgruppe „Mathematische Zellphysiologie“ am MDC auf dem Campus in Buch zusammengetan haben.
Rajewsky und sein Team sequenzierten Boten-RNA (mRNA) Tausender einzelner Zellen entlang des gesamten Zellzyklus. Konzentrationen von mRNA geben Aufschluss darüber, welche Gene aktiv sind und was die Zelle gerade tut. Sara Formichetti, Co-Autorin der Publikation und für die ultratiefe Sequenzierung verantwortlich, konnte detailliertere Informationen zur Genaktivität in jeder Zelle gewinnen, als es bisher möglich gewesen war. In der Regel sind Sequenzierungsstudien mit einem Zielkonflikt verbunden: Forschende können entweder viele Zellen sequenzieren oder umfassende Informationen für einzelne Zellen sammeln, aber nicht beides gleichzeitig. Formichetti wollte sich damit nicht zufriedengeben und optimierte den Prozess. Sie erstellte einen detaillierten Datensatz, der den gesamten Zyklus abdeckt.
Formichetti und Rajewsky begannen, die Zellen nach Zellzykluszeit rechnerisch zu ordnen. Formichettis Aufenthalt im Labor von Rajewsky neigte sich jedoch dem Ende zu. Daher wandte sich Rajewsky an Professor Martin Falcke, Leiter des Labors für mathematische Zellphysiologie, sowie an seinen Doktoranden Daniel Schwabe, Erstautor der Studie.
Geometrie in der Biologie
Das Team wollte herausfinden, ob die Datenwolke eine geometrische Form bilden würde, die den Prozess des Zellzyklus widerspiegelt. Sie erwarteten so etwas wie ein völlig verknotetes Wollknäuel, das für die zahlreichen Gene stehen würde, die im Laufe des Zyklus mehrfach aktiviert und deaktiviert werden.
Zunächst war weder ein Muster noch eine Form erkennbar. Also begann das Team, die Datenwolke zu drehen und betrachtete sie aus verschiedenen Perspektiven. Das kann man sich so vorstellen: Man hält einen Becher in der Hand und dreht ihn hin und her, um ihn von allen Seiten anzuschauen, hebt ihn hoch, um den Boden zu sehen und blickt dann von oben in den Becher hinein. Die Forschenden taten im Prinzip genau das und stellten fest, dass die Daten aus einer bestimmten Perspektive einen hohlen Zylinder bilden und – wie bei der Betrachtung des Bechers aus der Vogelperspektive – einen Kreis, der der Darstellung des Zellzyklus entspricht: die einfachste mögliche Form.
„Es gab bislang keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Zellzyklus tatsächlich so einfach sein würde“, sagt Schwabe. „Daraus können wir schlussfolgern, dass jedes am Zellzyklus beteiligte Gen während des Zyklus nur einmal aktiviert und deaktiviert wird.“
Die einmalige Aktivierung und Deaktivierung von Genen trägt dazu bei, das Fehlerpotenzial zu minimieren. Im Laufe der Evolution habe sich der Zellzyklus anscheinend so entwickelt, dass er so einfach und effizient wie möglich ist, meinen die Forschenden. Sie fanden mithilfe von immortalisierten Zelllinien heraus, dass der Zellzyklus grundsätzlich unabhängig von anderen in der Zelle aktiven biologischen Prozessen ist. Dadurch sinkt seine Fehleranfälligkeit weiter.
„Der Grad der von uns beobachteten Optimierung und Isolation ist äußerst bemerkenswert“, sagt Rajewsky. „Einerseits erfassen wir die Biologie des Zellzyklus vollständig in einer zweidimensionalen Kreisbewegung, während die Zellen gleichzeitig durch Prozesse wie Epigenetik und Umgebungsveränderungen entlang einer senkrechten Achse verschoben werden. In Kombination verursachen diese beiden Einflüsse eine spiralförmige Bewegung entlang eines hohlen Zylinders.“
Ganz nebenbei
Die Forschenden machten noch eine weitere unerwartete Entdeckung. Es ist bekannt, dass der Zellzyklus Kontrollpunkte aufweist, mit denen die Zellen sicherstellen, dass alle notwendigen Schritte abgeschlossen sind, bevor die nächste Zyklusphase eingeleitet wird. Das Team ging folglich davon aus, dass sich die Genaktivierung, bei der Gene in mRNA transkribiert werden, vor diesen Kontrollpunkten verlangsamt. So entstünden klar definierte Entscheidungsmomente, die bestimmen, ob es weitergeht. Die Daten zeigten jedoch, dass Gene relativ gleichmäßig und kontinuierlich angeschaltet werden, ohne auffällige Unterbrechungen.
„Das hat mich doch überrascht“, erinnert sich Falcke. „Man würde erwarten, dass die Zelle quasi eine Pause einlegt, wenn sie prüft, ob alle Schritte auf ihrer To-do-Liste abgeschlossen sind. Aber das ist nicht der Fall. Die Zelle erledigt das ganz nebenbei, während der Motor weiterhin läuft.“
Und das Team entdeckte noch mehr. Mit ihrem Forschungsansatz kann das Team die Effekte des Zellzyklus präzise aus Datensätzen eliminieren, sodass nur Unregelmäßigkeiten übrigbleiben. Das ist für Wissenschaftler*innen in ähnlichen Bereichen besonders interessant. Beispielsweise könnte sich so klären lassen, was in einem Zyklus schiefläuft, der zu unkontrollierter Zellteilung und Tumorwachstum führt. Rajewsky und Falcke wollen ihren Ansatz künftig dazu nutzen, den Ursprung der Zellvariabilität zu erforschen – denn sie führt zu sehr unterschiedlichen Genexpressionsniveaus bei klonalen Zellen. Es warten noch viele ungeklärte Fragen auf eine Antwort.
Originalpublikation:
Schwabe, Daniel et al. (2020): „The transcriptome dynamics of single cells during the cell cycle“. In: Molecular Systems Biology; DOI: 10.15252/msb.20209946
Weitere Informationen:
https://www.mdc-berlin.de/de/news/news/ueberraschungen-im-zellzyklus
https://www.mdc-berlin.de/de/falcke
https://www.mdc-berlin.de/de/n-rajewsky
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