Wie neugeborene Nervenzellen aus dem Dornröschenschlaf erwachen
Übung macht den Meister und ständige Wiederholung fördert die Merkfähigkeit. Schon länger wissen Forscher, dass wiederholte elektrische Stimulation die Nervenverbindungen (Synapsen) im Gehirn verstärkt. Das ist ähnlich wie bei einem viel benutzten Trampelpfad, der sich allmählich zum Weg verbreitert.
Umgekehrt können Synapsen auch wieder abgebaut werden, wenn sie nur noch selten gebraucht werden – etwa, wenn man die Vokabeln einer Fremdsprache vergisst, die man nach der Schulzeit nicht mehr braucht. Diese Fähigkeit, Verbindungen permanent und nach Bedarf zu ändern, bezeichnen Forscher als Plastizität des Gehirns.
Die Plastizität ist besonders wichtig im Hippokampus, einer zentralen Region für das Langzeitgedächtnis, in der lebenslänglich neue Nervenzellen gebildet werden. Deshalb haben die Gruppen von Privatdozent Dr. Stephan Schwarzacher (Goethe-Universität), Prof. Dr. Peter Jedlicka (Goethe-Universität und Justus Liebig Universität, Gießen) und Dr. Hermann Cuntz (Frankfurt Institute for Advanced Sciences, Frankfurt) die Langzeit-Plastizität von Synapsen in neugeborenen Körnerzellen des Hippokampus näher untersucht.
Synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen sind überwiegend an kleinen Ausstülpungen, sogennanten Dornen oder Spines der Nervenzellfortsätze (Dendriten) verankert. Die Dendriten der meisten Nervenzellen sind, ähnlich wie die Zweige einer Rose, mit vielen Dornen bewachsen.
In ihrer kürzlich publizierten Arbeit konnten die Wissenschaftler zum ersten Mal nachweisen, dass synaptische Plastizität in neugeborenen Nervenzellen mit lang-andauernden strukturellen Veränderungen dendritischer Dornen verbunden ist: Wiederholte elektrische Stimulation weckt die Synapsen aus dem Dornröschen-Schlaf, indem sie deren Dornen verstärkt und vergrößert.
Besonders spannend war die Beobachtung, dass die durchschnittliche Größe und Anzahl der Dornen sich nicht verändert: Wenn eine Gruppe von Synapsen durch die Stimulation verstärkt wurde und ihre dendritische Dornen sich vergrößert hatten, wurde gleichzeitig eine andere, nicht-stimulierte Gruppe von Synapsen schwächer und ihre dendritische Dornen verkleinerten sich.
Diese Beobachtung war nur deswegen technisch möglich, weil es unseren Studenten Tassilo Jungenitz und Marcel Beining zum ersten Mal gelungen ist, mit Hilfe von 2-Photonen-Mikroskopie und viraler Markierung plastische Änderungen von stimulierten und nicht stimulierten dendritischen Dornen innerhalb einzelner neugeborener Zellen zu untersuchen“, sagt Stephan Schwarzacher vom Institut für Anatomie am Universitätsklinikum Frankfurt.
Peter Jedlicka ergänzt: „Die Vergrößerung stimulierter und Verkleinerung nicht-stimulierter Synapsen war im Gleichgewicht. Unsere Computermodelle sagen voraus, dass dies wichtig ist, um die Aktivität der Nervenzellen aufrecht zu erhalten und ihr Überleben zu sichern.“
Die Wissenschaftler wollen jetzt den undurchdringlichen Dornenwald neugeborener Nervenzelldendriten im Detail erforschen. Dadurch wollen sie besser verstehen, wie die ausbalancierten Änderungen von dendritischen Dornen und ihrer Synapsen dazu beitragen, Informationen effizient abzuspeichern und dadurch zu Lernprozessen im Hippokampus beitragen.
Publikation: Structural homo- and heterosynaptic plasticity in mature and adult newborn rat hippocampal granule cells
DOI: 10.1073/pnas.1801889115
(Jungenitz et al. PNAS, 115:E4670 2018)
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BILDTEXT: Die Dendriten der neugeborenen Nervenzellen (grün) sind, ähnlich wie die Zweige einer Rose, mit vielen Dornen bewachsen (Bild: Tassilo Jungenitz).
Informationen: PD Dr. Stephan Schwarzacher, Institut für Anatomie I, Fachbereich Medizin, CampusNiederrad, Tel.: (069) 6301-6914, schwarzacher@em.uni-frankfurt.de
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