Doppelagenten: Wie Magen-Stammzellen bei Verletzungen ihre Zuständigkeit ändern

Normales Mäusemagenepithel (oben) im Vergleich zu Epithel mit p57-Überexpression (unten) an Tag 3 nach der Verletzung mit hochdosiertem Tamoxifen (HDT). Das Epithel ist für Hauptzellen (magenta), Halszellen (grün) und proliferierende Zellen (weiß) gefärbt. ©Lee/Koo/CellStemCell/IMBA

Eine adulte Stammzellenpopulation des Magens kann zwei völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen: Unter normalen Bedingungen unterstützt sie die Verdauung. Bei Verletzungen übernimmt sie jedoch die Führung, diese zu reparieren. WissenschaftlerInnen am IMBA, dem Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, zeigen, dass bei einer Verletzung nur ein einziger „molekularer Schalter“ genügt, um die Stammzellen von einem Zustand in den anderen zu versetzen. Die in der Zeitschrift Cell Stem Cell veröffentlichten neuen Erkenntnisse können zu einem besseren Verständnis von Magenpathologien beitragen.

Adulte Stammzellen sind für Wissenschaftler besonders interessant, weil sie sich unbegrenzt erneuern können und sich in alle Zelltypen differenzieren, aus denen das jeweilige Organ besteht. Immer mehr Hinweise deuten aber darauf hin, dass dies nicht die einzige Aufgabe adulter Stammzellen ist. Einige von ihnen sind wahre „Doppelagenten“: Sie können eine Schlüsselrolle in der normalen Funktion von Organen (Homöostase) einnehmen, behalten aber gleichzeitig ihre Fähigkeit, beschädigtes Gewebe zu regenerieren. Adulte Stammzellen sind also komplexer, als wir bisher dachten, und wir stehen vielleicht erst am Anfang, ihre funktionelle Vielfalt und Vielseitigkeit zu verstehen.

Eine bestimmte Population adulter Stammzellen im Magenkörper wird als „Hauptzellen“ bezeichnet (Englisch: „Chief cells“). Diese Zellen fungieren unter normalen physiologischen Bedingungen als „Reservestammzellen“, was bedeutet, dass sie sich nicht teilen, sondern nur Verdauungsenzyme absondern. Bei einer Gewebeschädigung schalten diese Zellen jedoch plötzlich um, vermehren sich rapide und regenerieren das geschädigte Gewebe. „Wir wussten, dass dieses Verhalten von einem Schalter abhängen muss, und wollten den genauen Mechanismus dieses Schalters aufdecken“, erklärt IMBA-Gruppenleiter Bon-Kyoung Koo, der korrespondierende Autor der Studie.

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Mäuse-Magenepithel ohne Verletzung (links) und am Tag 3 nach der Verletzung (dpi3) mit hochdosiertem Tamoxifen (HDT) (Mitte). Rechts: Epithel mit p57-Überexpression an dpi3 mit HDT. Das Epithel ist für Hauptzellen (magenta), Halszellen (grün) und proliferierende Zellen (weiß) gefärbt. Unten: Einschübe aus den drei Tafeln oben, die die Gruben der Magendrüsen zeigen. ©Lee/Koo/CellStemCell/IMBA

Zur Beantwortung ihrer Fragen haben die ForscherInnen einen soliden Aktionsplan entwickelt. Gemeinsam mit Mitarbeitern des Vanderbilt University Medical Center in Nashville (USA) und der Pohang University of Science and Technology (POSTECH) in der Republik Korea entwickelten sie ein Mausmodell zur Beobachtung der Auswirkungen einer Verletzung des Magengewebes auf Zell-Ebene. So konnte das Team alle transkribierten Gene auf Einzelzellbasis charakterisieren (ein Ansatz, der als „Transkriptomanalyse“ bezeichnet wird) und die Abstammung der Zellen im sich regenerierenden Mausmagengewebe verfolgen. „Mit dieser Strategie haben wir ein Molekül, p57, als den potenziellen molekularen Schalter identifiziert, nach dem wir gesucht hatten“, erklärt Ji-Hyun Lee, Hauptautorin und Postdoktorandin in der Koo-Forschungsgruppe am IMBA. „Wir konnten bestätigen, dass nach einer Verletzung die p57-Konzentration in den „Hauptzellen“ rasch abnimmt, und dass darauf ein rasanter Anstieg der Proliferation folgt. Wir haben zudem gezeigt, dass diese Proliferation eben von den „Hauptzellen“ abstammt“, fährt sie fort.

Um ihre Hypothese weiter zu testen und ihre Ergebnisse zu untermauern, überexprimierte das Team p57 in Magenorganoiden. Dadurch konnten sie in den Organoiden einen langfristigen Reservestammzell-Zustand herbeiführen und eine erhöhte Enzymsekretion auslösen. Die hohen p57-Werte in den Organoiden bewirkten also, dass sich die Reservestammzellen eher wie reife, sezernierende „Hauptzellen“ verhielten, die sich nicht vermehren. „Organoide sind normalerweise aufgrund des Wachstumsfaktor-Cocktails, den sie in der Kultur benötigen, sehr proliferativ. Sobald wir jedoch p57 einführten, hörten die Organoide plötzlich auf zu wachsen“, erklärt Lee. „In einem zweiten Schritt reduzierten wir die Expression von p57, und zu unserer Freude begannen die Organoide wieder zu wachsen“, fährt sie fort. „Das bedeutet, dass die Zellen durch p57 nicht ihre Stammzell-Eigenschaft verlieren. Sie gehen lediglich in den Reserve-Zustand über, was genau unseren in-vivo-Beobachtungen entspricht.“

Das Molekül p57 gehört zu einer größeren Familie von Proteinen, den so genannten CDK-Inhibitoren, die den Zellzyklus und die Zellvermehrung hemmen. Medikamente mit genau dieser Funktion wurden bereits zur Behandlung einiger Krebsarten entwickelt. Das Team um Koo und Lee untersuchte dann die Wirkung anderer CDK-Inhibitoren auf Magenorganoide um zu prüfen, ob ihre Ergebnisse wirklich spezifisch für p57 sind. Im Gegensatz zu p57 lösten die anderen Moleküle keinen reversiblen Reservestammzell-Zustand in den Organoiden aus, sondern ließen sie einfach absterben. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass p57 eine wichtige Kontrollfunktion innehat und den Reservestammzell-Zustand der „Hauptzellen“ im Magen in der Homöostase durchsetzt“, fasst Koo zusammen. Er bestätigt damit, dass p57 tatsächlich der molekulare Schalter ist, nach dem sie gesucht hatten.

Die Ergebnisse könnten einen wichtigen Einfluss auf das Verständnis von Magenkrankheiten haben. Lee erwähnt eine solche bekannte Erkrankung, die Spasmolytische Polypeptid-exprimierende Metaplasie (SPEM): Das ist eine chronische Erkrankung, von der bekannt ist, dass sie prämaligne ist oder zu Krebs führen kann. „Obwohl es sich bei SPEM um eine chronische Erkrankung handelt und wir mit unserem Versuchsaufbau nur die Auswirkungen einer akuten Verletzung testen können, glauben wir jetzt, dass SPEM von den Hauptzellen des Magens stammt. Wenn wir die Aktivierung dieser Zellen verstehen, hilft uns das, die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen von SPEM zu verstehen“.

Originalveröffentlichung:
Lee, Ji-Hyun, et al. (2022). p57Kip2 imposes the reserve stem cell state of gastric chief cells. Cell Stem Cell. DOI: https://doi.org/10.1016/j.stem.2022.04.001

Über das IMBA:
Das IMBA – das Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – ist eines der führenden biomedizinischen Forschungsinstitute in Europa mit dem Schwerpunkt auf modernsten Stammzelltechnologien, funktioneller Genomik und RNA-Biologie. Das IMBA ist im Vienna BioCenter angesiedelt, dem pulsierenden Cluster von Universitäten, Forschungsinstituten und Biotech-Unternehmen in Österreich. Das IMBA ist eine Tochtergesellschaft der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem führenden nationalen Förderer der außeruniversitären akademischen Forschung. Die Stammzell- und Organoidforschung am IMBA wird vom österreichischen Wissenschaftsministerium und der Stadt Wien finanziert.

Originalpublikation:

Lee, Ji-Hyun, et al. (2022). p57Kip2 imposes the reserve stem cell state of gastric chief cells. Cell Stem Cell. DOI: https://doi.org/10.1016/j.stem.2022.04.001

Weitere Informationen:

https://bit.ly/p57-ChiefCells_DE Link zur Pressemitteilung auf der IMBA Webseite

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Daniel F. Azar, PhD IMBA Communications
IMBA - Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften GmbH

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